Im Wohnzimmer von Gerlinde Hagmann steht ein kleiner, weißer Campingtisch. Darauf verteilt liegen unzählige Bilder, Zeitungsausschnitte, Briefe und Notizbücher, allesamt vergilbt und die meisten in Sütterlinschrift geschrieben. „Das ist ein Stück deutscher Kriegsgeschichte“, sagt die 79-Jährige. Dabei ist es noch mehr als das: Es ist die Geschichte ihres Vaters – eines Mannes, der den Ersten Weltkrieg vom Anfang bis zum Ende als Soldat an der Front miterlebte.
Was um ihn herum passierte, hielt der Villinger in detaillierten Aufzeichnungen fest, die mittlerweile im Besitz seiner Tochter sind. "Ich habe sie vor vielen Jahren auf dem Dachboden meines Elternhauses gefunden", sagt Gerlinde Hagmann. Und heute, 100 Jahre nach dem Ende des Krieges, halten diese Dokumente die Erinnerungen ihres Vaters wach. "Die waren zum Teil gar nicht so leicht zu entziffern", sagt sie und zieht ein kleines, schwarzes Buch aus einer der Schachteln auf dem Tisch. "Das ist das Tagebuch, dass er während seines ersten Feldzuges geschrieben hat – es liest sich wie ein Roman."
Die Begeisterung weicht der Angst
Als Joseph Hagmann 1914 in den Krieg zog, war er 21 Jahre alt. Er hatte sich als Einjährig-Freiwilliger gemeldet. "Wir fahren an den vielen winkenden Villingern vorüber", schrieb er am 1. August, als er mit dem Zug in Richtung Frankreich aufbrach. "Bald winkt aus jedem Hause uns jemand zu. Aber nirgends mehr ein junger, kräftiger Mensch – denn sie sind ja alle bei uns." Zu diesem Zeitpunkt habe ihr Vater noch eine gewisse Begeisterung für den Kriegseinsatz gezeigt, sagt Gerlinde Hagmann. Immerhin habe er dafür die Anerkennung Hunderter Menschen bekommen.
Joseph Hagmanns Einstellung zu seinem Einsatz änderte sich jedoch schnell. Schon nach wenigen Wochen schrieb er, dass er sich den Frieden herbeisehne und dass "dieser verdammte Krieg ein einziges Gemetzel" sei. Am 24. August lautete seine Eintragung: "Rechts und links, hinten, vor mir, überall schlagen die Granaten ein und manchen sah ich fallen. Das war das furchtbarste Feuer, das ich in offener Schlacht ganz ohne Deckung erlebt habe." Am Ende des Tages hatte seine Kompanie 90 Verwundete, 30 Vermisste und zehn Tote zu verzeichnen.
"Der wollte doch genauso gern leben wie ich"
Auch in den darauffolgenden Wochen rannte Joseph Hagmann immer wieder um sein Leben und sah Kameraden sterben. Schon bald begann er, den Sinn von alldem zu hinterfragen, wie er viele Jahre später seiner Tochter anvertraute. "Er sagte, er habe sich oft gefragt, warum er Soldaten in der Ferne angreifen soll, die ihm nichts getan hatten", erzählt Gerlinde Hagmann. Und so kam es einmal dazu, dass ihr Vater einem Soldaten aus den feindlichen Reihen begegnete, die beiden sich kurz ansahen und einfach weggingen. "Der wollte doch genauso gern leben wie ich", lautete Joseph Hagmanns Erklärung später.

Immer wieder stockt Gerlinde Hagmanns Stimme, während sie aus dem Tagebuch ihres Vaters vorliest. "Ich frage mich, wie er das alles überlebt hat", sagt sie. Der Erste Weltkrieg forderte unter den Soldaten fast zehn Millionen Todesopfer. Joseph Hagmann gehörte nicht dazu. Dabei war es einige Male wirklich knapp. 1914 erlitt er während des Frankreich-Feldzugs einen Schuss in den Oberschenkel. 1916 überlebte er in Verdun die verlustreichste Schlacht des Krieges. Und ein Jahr nach dem Abschluss seiner Pilotenausbildung stürzte er im Frühjahr 1918 mit seinem Flieger ab.
Zwischen Krippenspiel und militärischer Strenge – Hagmann hatte zwei Seiten
Mit seiner Familie sprach Joseph Hagmann nur selten über all diese Erlebnisse. Seine Tochter beschreibt ihn als einen Mann, mit zwei Seiten. Einerseits war er der Familienvater, der bescheiden und anständig war und zu Weihnachten mit seinen Kindern Krippenspiele zeigte und Lieder sang. Andererseits konnte er sehr hart sein, sagt Gerlinde Hagmann. "Er hatte diese militärische Strenge."

Das ist wohl auch der Grund dafür, dass der 79-Jährigen eine Situation ganz besonders in Erinnerung geblieben ist. Als sie vor vielen Jahren mit ihrem Vater einen Friedhof besuchte und die beiden an den Kriegsgräbern ankamen, sah Gerlinde Hagmann etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: Ihr Vater weinte. "In dem Moment habe ich ihn noch einmal von einer ganz neuen Seite kennengelernt", sagt sie mit zitternder Stimme.
Zur Person
Joseph Hagmann wurde 1893 in Villingen geboren. Während des Krieges (1914-1918) unterbrach er sein Agrarwissenschafts-Studium und meldete sich als Einjährig-Freiwilliger. Nach Kriegsende lehrte an einer landwirtschaftlichen Schule, bevor er schließlich den ersten Molkereibetrieb in Villingen übernahm, den sein Onkel gegründet hatte. Zu Beginn des zweiten Weltkriegs wurde Hagmann eingezogen und als Hauptmann in Donaueschingen eingesetzt. Er starb 1971, nachdem er mehrere Schlaganfälle erlitten hatte.