Fakt ist, Wohnraum in Villingen-Schwenningen ist knapp. Ein Gutachten der Stadt vor wenigen Jahren hatte aufgezeigt auf, dass zwischen 2015 und 2030 rund 5700 Wohnungen gebaut werden müssen, um den steigenden Bedarf abzudecken. Zudem werden bis zum Jahr 2025 rund 1000 Sozialwohnungen benötigt (wir berichteten). Aktuell werden daher mehrere Tausend Wohnungen in VS gebaut. Es herrscht ein regelrechter Bauboom in der Stadt, getrieben vom steigenden Bedarf, einem niedrigen Zinsniveau und der Tatsache, dass Immobilien als attraktive Anlageform gelten. ein Ziel dabei ist, Baulücken zu schließen und den Flächenverbrauch zu minimieren.
Wie sich dieser Trend für Albert Czerny anfühlt, der seit 1956 in Erbsenlachen wohnt, schildert er bei einem Spaziergang durch das Wohngebiet.

Hintergrund
Veränderung ist nichts Neues für den 87-Jährigen. Er selbst hat sich 1956 im Wohnblock mit der Hausnummer 48 bis 55 eine Wohnung gekauft und lebt bis heute dort. „Es war hier das erste Haus im Besitz einer Eigentümergemeinschaft“, erinnert er sich. Später kamen weitere Wohnblöcke hinzu, die als Unterkünfte für Einwanderer und Gastarbeiter sowie als Mietwohnungen dienten. Heute sind viele Wohnungen in Privatbesitz. Drei Blöcke wurden für französische Soldaten und ihre Familien gebaut. Das Heilig Geist Spital kam in den 70er-Jahren hinzu. Das Wohngebiet ist also über Jahre hinweg zu einem funktionierenden Schmelztiegel der unterschiedlichsten Kulturen gewachsen. Im Zentrum lädt bis heute eine Grünfläche mit Spielplatz zum Verweilen ein. Jetzt ist erneut Bewegung in die Struktur gekommen. Vor allem an den Rändern des Viertels stehen Veränderungen an.

Wohnprojekt Vöhrenbacher Straße
„Rings herum sind die Bäume immer weniger geworden, von der Tankstelle bis zum Spittel“, schildert Czerny seinen Eindruck. Vor allem ärgert ihn derzeit die neue Baustelle an der Vöhrenbacher Straße. Hier seien zuletzt zahlreiche Bäume und Büsche den Sägen zum Opfer gefallen. Ein Nussbaum, Schlehen und weiteres Gehölz zählt er auf.
Auf dem Gebiet des ehemaligen Klinikparkplatzes entstehen derzeit knapp 100 neue Wohneinheiten der Baugenossenschaft Familienheim. Der Protest von Anwohnern, den damals auch Czerny unterstützte, hatten bei der Ratsentscheidung letztlich kein Gewicht. „Wir waren zu spät dran und konnten nichts mehr bewirken“, blickt er zurück.

Also bleibt dem 87-Jährigen nur die Erinnerung an seinen „Wohlfühlweg“, wie er ihn nannte, der entlang des von Baumen und Büschen gesäumten Parkplatzes führte. Eine kleine, grüne Insel, zwischen Wohngebiet und Vöhrenbacher Straße, von der nun nicht mehr viel übrig sei, sagt er und lugt ungläubig durch eines der Gucklöcher der hölzernen Baustellenabsperrung, die für Kinder eingelassen wurden, um Bagger beobachten zu können. Czerny bedauert, dass mit den neuen Häusern eine weitere Häuserschlucht in VS entstehe, durch die viel Verkehr stadtein- und auswärts rolle. Der Kindergarten St. Konrad habe ein Stück Natur und Freiraum vor der Haustüre verloren.
Zweifel an hohem Bedarf
„Benötigen wir überhaupt so viele neue Wohnungen?“, fragen sich Czerny und ein weiterer Anwohner, der spontan seine Meinung ins Gespräch mit einbringt, mit Blick auf die Baustelle in ihrer Nachbarschaft und die vielen weiteren Bauprojekte in der Stadt. Warum nicht erst die Franzosenwohnungen wiederbeleben und ein Konzept für das Spittel erarbeiten, so ihre Meinung. Und derweil würden im gegenüberliegenden Friedrichspark noch Wohnungen leer aussehen.
Franzosenwohnungen
Zumindest bei einem ihrer Kritikpunkte zeichnet sich eine baldige Lösung ab. Schon bald könnte die Sanierung der ehemaligen Franzosenwohnungen beginnen. Der Technische Ausschuss hat grünes Licht gegeben. Ein Investor will in den drei Wohnblocks Erbsenlachen 8 bis 24 insgesamt 105 Wohneinheiten schaffen. Ganz ohne Baumfällungen wird aber auch diese Maßnahme nicht auskommen, um nötige Stellplätze und Zufahrten zu realisieren. Ein Trostpflaster für Czerny: Laut Plänen sollen jedoch die meisten die Bäume erhalten bleiben.
Spittel
Und was wird aus dem ehemaligen Heilig-Geist-Spital? Darüber rätselt auch Czerny. „Ich weiß es nicht“, sagt er und erinnert sich mit einem weinenden Auge an die Zeit, als hier seine mittlerweile verstorbene Frau Irmgard ein Jahr lang in Pflege war. „Das Spittel hatte Charme. Wir haben uns trotz aller Umstände immer wohlgefühlt“, erinnert er sich. Seit der Schließung habe sich am und um das Gebäude nichts mehr getan, erzählt er. Lediglich in der vor der Schließung neu eingerichteten Großküche werde noch für andere Einrichtungen gekocht, so seine Beobachtung. Bis heute ist nicht offiziell bekannt, wie es mit der langsam verfallenden Immobile weitergeht. Laut SÜDKURIER-Informationen existieren erste Ideen für eine künftige Nutzung. Wohnungen, Studentenwohnungen und auch Räume für eine Kindertagesstätte sind im Gespräch.

Baum gerettet
Sorgenvoll hat Czerny aus genannten Gründen zuletzt das Anrücken von Baumpflege-Teams in Erbsenlachen beobachtet. In Gedanken sah er schon weitere Bäume fallen. „Aber Baumpflege muss eben sein“, sieht er ein. Bei einem Baum-Exemplar wollte er jedoch nichts dem Zufall überlassen. Auf einem städtischen Grünstreifen neben seinem Wohnblock steht eine 40 Jahre alte Schwarz-Kiefer. „Die habe ich, wie viele andere Bäume hier, selbst gepflanzt“, so Czerny, der sich lange Zeit als Hausmeister und Vorsitzender der Eigentümergemeinschaft verdient gemacht hat. Dieser Baum liegt ihm und anderen Anwohnern besonders am Herzen. „Das war damals unser Weihnachtsbaum“, verrät Czerny.

Im Kübel gekauft, musste nach dem Fest ein Platz im Boden gefunden werden. „Wir haben bei der Stadt um eine Genehmigung gebeten“, erinnert er sich. Die Antwort lautete: „Na klar, so ein kleiner Baum wird genehmigt.“ Heute ist die Kiefer haushoch. Als die Baumpfleger die Weihnachtskiefer ins Visier nahmen, stand Czerny parat und setzte sich für seinen Baum ein, konnte eine Fällung verhindern. Extra für den Wahlsonntag, an dem viele Menschen dort vorbeigingen, hat er ein Schild am Stamm aufgehängt mit der Aufschrift: „Ich will leben.“ Mit Erfolg: Der Baum wurde zwar gestutzt und das Aussehen hat gelitten, aber, er steht noch.