Heute nennen sie ihn den van Gogh Italiens, wahlweise auch der Schweiz. Und wie der echte van Gogh wurde auch Antonio Ligabue (1899-1965) zu Lebzeiten verkannt, verlacht. Weil er ein uneheliches Kind aus ärmsten Verhältnissen war, weil sein Kopf so unförmig, der Körper so krumm aussah. Vor allem aber wegen seiner geistigen Konstitution: Bis ins Schulalter blieb Antonio stumm. Als er dann doch zu sprechen begann, waren es nur Schimpfwörter.

Ohne Schulabschluss, aus Waisenhäusern verwiesen, von Psychiatern als hoffnungsloser Fall abgestempelt, fristete Ligabue sein Leben zwischen Lehmskulpturen und Tiergemälden. Bis unters Dach stopfte er seine Hütte im Wald unweit des Po-Ufers damit voll. Geld verdiente er auf dem Straßenbau, hin und wieder beauftragte ihn ein Schausteller damit, Plakate anzufertigen. Und wäre nicht zufällig der Maler Marino Mazzacurati vorbeigekommen, der in dem wunderlichen Autodidakten das begnadete Talent entdeckte, so hätte der italienische Schriftsteller Renato Martinoni heute keinen Anlass gefunden, sich mit dem tragischen Werdegang dieses Künstlers näher zu befassen.

In „Die Glocke von Marbach“ erzählt Martinoni von einer Lebenswirklichkeit in der Bodenseeregion, die mit Alpenromantik und Schweizer Idylle wenig gemein hat. Es ist die Zeit um die Jahrhundertwende, als aus den verarmten Regionen Norditaliens Gastarbeiter ins Land kamen, um in Stickereifabriken zu arbeiten, in Ziegeleien oder auf Baustellen zur Rheinbegradigung.

Vor allem junge Frauen begeben sich dabei in gefährliche Situationen: Mit hochfliegenden Hoffnungen ihrer Familien aber ohne sexuelle Aufklärung leben sie in bescheidenen Verhältnissen, oft in Gemeinschaftsunterkünften. Maria Elisabetta Costa ist so eine „Cioda“, ihr Geld verdient sie mal hier mal dort. Den mutmaßlichen Vater ihres Kindes lernt sie auf der italienischen Seite der Alpen kennen, sie ahnt gar nicht, dass eine gemeinsam verbrachte Nacht auf Stroh Folgen haben kann.

Mit vier Jahren sprach er kaum ein Wort

Das Kind bringt sie in Zürich zur Welt, wo sie für einige Zeit wieder eine Anstellung in einer Fabrik gefunden hat. Und als sie bald wieder schwanger wird, gelingt es ihr zwar, diesmal den Mann zur Eheschließung und Adoption des ersten Sohnes zu überreden. Es liegt aber kein guter Segen auf dieser Familie. Weil allzu offensichtlich ist, dass mit dem Kleinen etwas nicht recht stimmt, beschimpft ihn der Vater als „Missgeburt“, als „Monster“ gar. Und so landet Antonio schon bald bei Pflegeeltern in Egnach nahe Romanshorn: ein kinderloses Ehepaar, er arbeitet als Zimmermann, sie fühlt sich als Frau ohne Kind nicht vollwertig.

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Doch der Junge, den sie bekommen, ist so ganz anders als die Kinder der um ihre Mutterschaft beneideten Nachbarinnen. Noch mit viereinhalb Jahren spricht er kaum ein Wort, weint dafür umso mehr. Beruhigen kann ihn nur der Anblick der neuartigen Luftschiffe, die seit Kurzem auf der anderen Seeseite gelegentlich zum Himmel aufsteigen. Und noch etwas: die Sammelbildchen im Lädeli vor Ort mit Tigern im Schilf, Elefanten zwischen Bäumen. Szenen, die er später einmal auf die Leinwand bringen wird.

Doch an einen Erfolg als Künstler mag in diesen Jahren am Bodensee niemand glauben. In der Schule scheitert der Junge am kleinen Einmaleins, seine Mutter beschimpft er mal als Schlampe, mal als alte Hexe. Die fragt sich, was sie bloß falsch gemacht hat. Und hofft, dass die Sonderpädagogen in Marbach bei St. Gallen einen Zugang zu diesem Bewusstsein finden.

Der späte Ruhm

Interessant an Martinonis Schilderungen ist eine für die Moderne typische Diskrepanz. Einerseits nämlich lässt sich bereits der Einfluss von Freuds Psychoanalyse mit Händen greifen: Statt verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche einfach wegzusperren, ist Therapie und Reformpädagogik angesagt, so interessiert Antonios Schicksal schon bald Koryphäen wie Karl Imboden und Hermann Rorschach.

Andererseits soll der Mensch in einer industrialisierten Welt als Arbeitskraft mehr denn je funktionieren, selbst unter unwürdigsten Lebensumständen. Man wähnt sich als Leser bald selbst in der Rolle des Therapeuten. Lässt sich in diesem widerständigen Geist nicht eine Rebellion gegen diese Widersprüche seiner Zeit erkennen?

Das Verhältnis eines radikal freien Geistes zu einer durch und durch funktionalen Welt hätte in diesem halb biografischen, halb fantastischen Roman größere Aufmerksamkeit verdient gehabt. Leider jedoch zieht Martinoni spekulative Abschweifungen über einzelne Arbeitsstationen der Mutter vor. So bleibt uns nur, den Menschen Antonio Ligabue selbst zu entdecken. Am besten in seinen eigenen Bildern.

Renato Martinoni: „Die Glocke von Marbach – Antonio Ligabue“, Roman, übers. von Diana Bischofberger, Limmat Verlag 2023; 384 Seiten, 28 Euro.