Seit einigen Wochen gibt es in Rorschach jeden Abend ein stilles Ritual. Um genau 22.15 Uhr, wenn in der Schweizer Kleinstadt am Bodensee die Glocken der katholischen Kirche St. Kolumban zum Viertelstundenschlag läuten sollten, passiert nichts. Bis zum nächsten Morgen bleiben sie stumm.
Es gibt Leute, denen ist das egal. Es gibt Leute, die sich darüber freuen. Und es gibt Leute, die das fehlende nächtliche Glockenläuten als schwerwiegenden Verlust empfinden. Zwischen diesen Gruppen ist nun ein Streit ausgebrochen, wie er in vielen Gemeinden in ähnlicher Form ausgetragen wird – so verfahren wie hier ist die Situation aber selten.

Vordergründig geht es um das Ruhebedürfnis von Anwohnern, die in der Nacht nicht jede Viertelstunde an die Uhrzeit erinnert werden möchten, was wiederum andere gerade bereichernd finden. Doch das Problem in Rorschach, das wird sich in diesem Fall zeigen, ist nicht der Lärm, sondern die Stille: das Schweigen.
Angefangen hat alles mit einem Neubau mit direktem Blick auf den Bodensee. „Seehof“ nennen es die Bauherren, „Schaufenster“ nennen es die Stadtbewohner, wegen der raumhohen Fenster zur Hauptstraße hin. 35 Wohnungen fanden in dem Gebäuderiegel Platz, äußerlich unspektakulär, Preissegment obere Mittelklasse, fast alle davon sind vermietet oder verkauft.
Auf der anderen Seite des Wohnblocks steht die Pfarrkirche St. Kolumban. Im 8. Jahrhundert war sie noch ein bescheidenes Holzkirchlein, heute steht da ein barocker Prachtbau mit Kirchturm, ausgestattet mit einem Instrumentarium von fünf teils mehrere Tonnen schwerer Glocken.

Den meisten Anwohnern dürfte die Klanggewalt dieser Kirche nicht von Anfang an bewusst gewesen sein. So dauerte es einige Zeit, bis in dem Neubau der Widerstand keimte. Bei einer Eigentümerversammlung im Jahr 2020 kam man schließlich zum Schluss, sich mit einer Petition dagegen zur Wehr zu setzen. 34 Unterschriften kamen zusammen und landeten schließlich beim Rorschacher Kirchenverwaltungsrat.
Was folgte, war eine fast ein Jahr andauernde Beratung, bevor der Rat entschloss, das nächtliche Läuten ab dem 1. Dezember 2021 für sechs Monate einzustellen. Weiterer Widerspruch folgte, diesmal jedoch von Befürwortern des Glockenklangs.
Es war kein schöner Adventsanfang für Barbara Camenzind, als ihr die Stille über der Rorschacher Nacht erstmals auffiel. „Statt das barocke Läuten abzustellen, sollte man sich lieber überlegen, wie man den Verkehrslärm der Straße eindämmen könnte“, sagt sie etwas verärgert. Die 47-Jährige wohnt in Sichtweite zum Glockenturm, wenn auch einige Hundert Meter weiter weg als die direkten Anwohner im Neubau.

Die Musikerin und Lehrerin hat aber nicht nur deshalb einen anderen Blick auf den Glockenstreit. Sie vermutet, dass viele Menschen das Läuten mit dem Gefühl von Heimat verbinden, besonders in der Nacht. „Abgesehen von ihrem Äußerlichen hat diese Stadt auch eine akustische Gestalt. Da gehört der Glockenklang als Herzschlag dazu, und das Herz hört in der Nacht ja nicht auf zu schlagen.“ Außerdem sei das Läuten für sie eine Art der Wahrnehmung für die christlichen Landeskirchen und deren Arbeit im sozialen Bereich, wo der Schweizer Staat nur allzu oft wegschaue.
Camenzind folgte dem, was sie ihr elftes Gebot nennt, das da lautet: „Lass dir nicht alles gefallen.“ Kurzerhand startete sie auf der Webseite Change.org eine eigene Petition – für das nächtliche Läuten. Nun wurde die Diskussion darüber plötzlich zum Stadtgespräch und Camenzind zum Ziel von Anfeindungen.
„Dümmliche Argumente“, wirft ihr etwa Edith Inauen vor, eine der Anwohnerinnen in der Nähe der Kirche. „Wozu dient denn die Nacht? Zum Schlafen! Wenn man schläft, kann man ja wohl kaum das Läuten vermissen.“ Manch andere mehr oder weniger sachliche Kritik erreicht Camenzind auch per Post und über soziale Medien. „Seltsamerweise melden sich vor allem Leute zu Wort, die überhaupt nicht in Rorschach wohnen“, bemerkt sie.
Ihr zwölftes Gebot: „Schnauze halten“
Dennoch ist sie erfreut, dass das nächtliche Glockenläuten jetzt breit diskutiert wird. „Genau das wollte ich erreichen, weil uns ja durch in der Pandemie Gesprächsformate wie die Bürgerversammlung fehlen, wo man darüber hätte reden können.“
220 Leute unterstützten schließlich ihre Online-Petition, die sie nun an den Kirchenverwaltungsrat weiterreichen wird. Danach will sich Camenzind erst mal auf ihr persönliches zwölftes Gebot besinnen: „Halt auch mal wieder die Schnauze.“
Dann beginnt für Pius Riedener eine schwierige Abwägung. Er ist ehrenamtlicher Präsident des Kirchenverwaltungsrats, der letztlich über das Glockengeläut der Kirche St. Kolumban entscheiden muss. „Die Petition der Anwohner wendet sich ja nicht nur gegen das Zeitläuten, sondern auch gegen das liturgische Läuten vor den Gottesdiensten oder in den Abendstunden“, erklärt er. Da müsste sich der Pfarrer jedes Mal überlegen, ob er jetzt wohl gerade jemanden stören würde.
„Diesen öffentlichen Druck dürfen wir nicht auf einzelnen Personen abladen“, mahnt Riedener. Auch ihn hätten bereits kurz nach dem Abstellen des nächtlichen Läutens irritierte Reaktionen erreicht: „Manche Leute haben das Gefühl, dass wir dem Protest vorschnell nachgegeben hätten.“ Es ist ein Eindruck, den auch Riedener nicht ganz von der Hand weisen will.
Die evangelisch-reformierte Kirche von Rorschach steht nur einige Häuserzeilen entfernt. Sie ist schon vor einigen Jahren auf Drängen von Anwohnern nachts verstummt. Für die Kirche St. Kolumban wünscht sich Riedener aber eine andere Lösung. „Für mich sind die Kirchenglocken eine Erinnerung an meine eigene Jugend, an Momente, an denen man kurz innehält und darüber nachdenkt, warum wir eigentlich hier sind“, sagt er.

Ihn störe an der Petition gegen das nächtliche Geläut nicht die Forderung an sich, sondern der resolute Gestus der Anwohner. „Wenn man neben eine Kirche zieht und dann als erstes gleich mal das Läuten abstellen will, ist das eine Frechheit.“
Gerne, so betont Riedener, würde sich der Kirchenverwaltungsrat mit den Anwohnern und den Glockenbefürwortern an einen Tisch setzen, um nach Kompromissen zu suchen. Möglich wären neben dem nächtlichen Abschalten auch technische Maßnahmen wie Schallisolierungen in Richtung der Wohnungen.
Der Stadtpräsident ist mittendrin
Aber die Gruppe der Glockengegner bleibt in der öffentlichen Debatte weitgehend anonym und zeige keine Anzeichen, sich an der Kompromisssuche beteiligen zu wollen, wie Riedener sagt. Der Einzige, der sich mehr oder weniger offen gegen das Glockenläuten äußert, ist Stadtpräsident Robert Raths.
Für ihn, in seinem Amt vergleichbar mit einem Bürgermeister in Deutschland, ist die Sache delikat, weil er selbst im Neubau neben der Kirche wohnt und damit persönlich betroffen ist. Er empfinde das nächtliche Läuten als „sehr störend“ und verbarrikadiert sich hinter Regelungen der Schweizer Lärmschutzverordnung, wonach Geräusche nachts einen Lärmpegel von 90 Dezibel nicht überschreiten dürfen. Das Problem: Dieser Grenzwert kommt bei Kirchenglocken nur sehr begrenzt zur Anwendung.
Das Bundesgericht, die höchste rechtliche Instanz der Schweiz, räumt in der Abwägung zwischen Tradition und Lärmschutz dem Glockenklang ein hohes Gewicht ein. 2017 hatten Nachbarn einer Kirche in der Zürcher Gemeinde Wädenswil gegen den nächtlichen Glockenschlag geklagt, und erlitten in letzter Instanz eine Niederlage.
Lärmmessungen, so urteilte das Gericht, seien hierbei nur eingeschränkt entscheidend, vielmehr müsste auf die tatsächliche Beeinträchtigung des Schlafes geachtet werden. Die Lärmschutzverordnung, auf die Stadtpräsident Raths verweist, ist aber „auf Geräusche zugeschnitten, die als unerwünschte Nebenwirkungen einer bestimmten Tätigkeit auftreten“, wie es in dem Urteil heißt. Der Klang von Kirchenglocken ist keine unerwünschte Nebenwirkung.
Für Kirchenverwaltungsratspräsident Riedener ist das eine gute Nachricht. „Die Entscheidung des Bundesgerichts weist uns zwar einen Weg, der Gang vor ein Gericht würde aber wohl beide Seiten dieser Konfrontation unversöhnlich zurücklassen“, sagt er. Die bisherigen Maßnahmen, also das Abschalten der Glocken von 22 bis 7 Uhr, seien für den Verwaltungsrat das Maximum, „weiter würden wir nicht gehen“.
Wer mit Anwohnern in der Nähe der Kirche ins Gespräch kommen will, stößt an eine Mauer des Schweigens, nicht zuletzt, seit die Petition für den Erhalt des Glockenläutens so überraschend viel Zuspruch erhalten hat. Niemand scheint sich äußern zu wollen, und schon gar nicht mit vollem Namen in den Medien erwähnt werden.
Zwischen Tür und Angeln kippen einige eine ganze Ladung grundsätzlicher Kritik an der katholischen Kirche aus, nicht ohne den Hinweis, dass man selbst ohnehin längst aus „dem Verein“ ausgetreten sei. Der Glockenturm ist für einige auch ein Blitzableiter für jahrelange Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Erscheinungsbild der Kirche. Der Eindruck von Barbara Camenzind scheint sich zu bestätigen: Man spricht nicht mehr miteinander, man hört sich nicht zu, die Gräben sind tief.
Und dann meldet sich nach einigen Tagen eine Frau, die nicht in diese vergiftete Atmosphäre passt. Joanna Janczak, Chefärztin, herzliche Erscheinung, lacht häufig während sie spricht, ebenfalls Bewohnerin des „Seehofs“ – aber auf der Klaviatur der Kritik spielt sie die leisen Töne an. „Bevor wir hierhergezogen waren, hatten wir uns eher Sorgen wegen des Straßenlärms gemacht, das Glockenläuten ist uns erst später aufgefallen“, erinnert sie sich. Das habe sich aber inzwischen geändert.

Weil die Fenster zur Straße immer zu seien, höre man nun einmal die Glocken ziemlich stark. Tagsüber mache ihr das aber nichts aus, auch das liturgische Läuten in den Abendstunden und an den Wochenenden, wenn sich die viereinhalb Tonnen schwere „Bürgerglocke“ in Bewegung setzt, störe sie nicht. „Ich sehe aber wirklich keinen Grund, warum nachts um drei die Uhr läuten muss.“
Sie habe bereits in anderen, sehr katholisch geprägten Ländern wie Italien und Polen gelebt, und selbst da hätten die Kirchen in der Nacht nicht geläutet, erzählt Janczak.
Hier in Rorschach mache sie sich nun aber vor allem Sorgen um die älteren Leute, die in der Nähe der Kirche wohnen oder auch um ihre Kinder, die manchmal vom Läuten wach werden. „Ich finde es darum schön, dass die Kirchenverwaltung so reagiert hat und es nachts ruhig bleibt“, sagt sie.
„Natürlich ist das Ganze aber auch ein Luxusproblem. Andere Leute auf dieser Welt wohnen an Bahngleisen oder neben Autobahnen, man kann sich wahrscheinlich an fast alles gewöhnen.“ Auch ihr, ihrer Familie und den anderen Anwohnern der Kirche St. Kolumban bliebe nichts anderes übrig, wenn das nächtliche Geläut nach dem Ende der Testphase am 1. Juni wieder losgehen würde.
„Das wäre zwar enttäuschend, aber vielleicht lässt sich bis dahin ja ein Kompromiss finden“, sagt sie noch und lacht, wie sie es so häufig tut. „Ein runder Tisch wäre eine gute Sache.“
Es ist eine Idee, die fast alle Beteiligten in diesem Streit geäußert haben, doch miteinander darüber gesprochen haben sie bis heute nicht. Da ist immer noch diese Stille: das Schweigen.