Was die Schokolade für den Gaumen und das Taschenmesser für die Hosentasche sind, ist die Kuhglocke für Augen und Ohren: Symbole der Schweiz. Entsprechend hoch schlagen die Wellen, seit ein Bauer aus Berikon im Aargau sie seinem Vieh nachts zum Lärmschutz von Anwohnern abnehmen muss. So hat es die Kantonsregierung beschlossen. Laut deren Juristen könnte die Entscheidung bei künftigen Streitigkeiten in ähnlichen Fällen als Leitlinie gelten.
Bauer Walter Brechbühl kann seither die Welt nicht mehr recht verstehen und sagt: „Die Glocken und das Schellen gehören doch einfach zur Schweiz dazu.“
Je nach Wetter lasse er seine Kühe durchgehend tags wie nachts draußen auf der Wiese. Bis vor Kurzem samt teils jahrzehntealten Glocken.
Kuhglocken gehören zum Brauchtum und sind schellender Alarm
Die mitunter opulenten Schellen gelten als Stolz der Viehbesitzer. Sie in Umzügen vorzuzeigen oder gleich selbst durch Dörfer zu schleppen, gehört zum nationalen Brauchtum und Kulturgut.

Der eigentliche und ursprüngliche Zweck ist ein anderer: Herden zusammenhalten, verirrte Tiere wiederfinden. Wäre das auch für Walter Brechbühl notwendig gewesen, hätte der Kanton wohl anders geurteilt. In seiner zwölfseitigen Entscheidung, die der Redaktion vorliegt, heißt es allerdings: „Es ist wahrhaftig nicht notwendig, dass die Tiere aus Sicherheitsgründen Glocken tragen müssen (keine Gefahr für Entlaufen der Tiere).“ Brechbühl wiegelt aber ohnehin ab: „Mir wird schon keine Kuh abhauen, davor habe ich keine Angst.“
„Und plötzlich sollen die schellenden Glocken stören?“
Viel mehr geht es dem Bauern aus dem zwischen Zürich und Aarau gelegenen Ort, sagt er in tiefstem Schwizerdütsch, „um den Verlust einer typischen Schweizer Tradition“. Walter Brechbühl kratzt sich an der gegerbten Stirn, die Kappe tief ins Gesicht gezogen, das strahlende Hemd mit Edelweiss-Muster liegt locker über dem drahtigen Oberkörper. „Unsere Familie sitzt seit 1934 auf dem Hof hier und plötzlich sollen die schellenden Kuhglocken-Läuten stören?“

Gemeinderat lehnte Beschwerde zunächst ab
Tut es. Und zwar einen Nachbarn des Bauern so sehr und wie er vorgibt schon seit Jahren. Was ihn dazu brachte, dass er erstmals im Mai 2020 ein Kuhglockenverbot beim Gemeinderat des 4800-Einwohner-Orts beantragt hatte.
Zunächst forderte er – gestützt von drei Dutzend Unterschriften – die Glockenruhe auch tagsüber. Der Gemeinderat wies den Antrag verwundert ab. Das Berikoner Polizeigesetz nimmt Kirchen- und Kuhglocken ausdrücklich von Lärmschutzregeln aus.
Nachbar gab sich mit Ablehnung der Gemeinde nicht zufrieden
Der Weiden-Anwohner und seine Mitstreiter reichten danach Beschwerde ein und konkretisierten ihr Anliegen: Wenigstens in den Abendstunden, an Sonn- und Feiertagen aber ganztags sollten die Kuhglocken schweigen. Dem 'SRF' sagte der Nachbar, das Geläut von der Weide neben seinem Einfamilienhaus ließe ihn nicht durchschlafen, in den Ferien fliehe er deshalb von zu Hause. Der Mann ist nicht zugezogen, sondern stammt aus dem Ort.
Bauer Walter Brechbühl sagt schulterzuckend, er kenne ihn und seine Familie „schon immer als direkte Nachbarn“. Das deckt sich mit Informationen der Redaktion, nach denen der Mann schon seit Jahrzehnten in Berikon lebt. Ganz unkompliziert – so viel lässt Brechbühl durchblicken – sei das nachbarschaftliche Verhältnis nie gewesen.

Der um den Schlaf gebrachte Weiden-Nachbar ist derzeit weder telefonisch noch persönlich erreichbar. Eine neuerliche Flucht aus seinem Haus – im Aargau sind seit der zweiten Juli-Woche Sommerferien – hätte er nicht begehen müssen: Inzwischen kann er nachts von Kuhglocken befreit schlafen.
Kanton kippt die in der Gemeinde geltende Ausnahme für Kuhglocken
Das Aargauer Department für Bau, Umwelt und Verkehr sprach ein Machtwort: Keine Ausnahme mehr für Kuhglocken. Zwar nicht schon ab 20 Uhr und sonntags auch nicht ganztägig, aber zwischen 22 und 7 Uhr geht Schlaf jetzt vor urige Tradition.
In der zwölfseitigen Entscheidung, die der Redaktion vorliegt, ist der kurios anmutende Glockenstreit in größter Sachlichkeit dokumentiert: Von Lärmimmissionen, Grenzwerten, kommunalen Vorschriften und Bundesumweltrecht ist dort die Rede.
Ein Fachspezialist kommt nach der Prüfung der Geräuschkulisse schon einmal zum unstrittigen Ergebnis: „Kuhglocken, bzw. die Weide mit den Kühen sind im Grundsatz nicht zu den Anlagen zu zählen.“
Spontaner Unterstützer-Umzug für Walter Brechbühl
Mit traditioneller Schweizer Dorfromantik hat dieses Bürokratenschweizerisch wenig zu tun, und auch nicht mit den Emotionen, die der Streit in der Gemeinde hervorruft. Nicht nur der Nachbar, der seine Nachtruhe gestört sieht, hat Unterstützer für sein Anliegen. Nach der Entscheidung des Kantons fand jüngst eine spontane Solidaritätsaktion für das Recht aufs Glockengeläut statt. Jung bis alt, Mensch, Kuh, Ziege und Traktoren machten sich zum Umzug durch Berikon auf.

„Ich war überrascht und auch ein wenig gerührt“, sagt Bauer Walter Brechbühl, „damit hatte ich schlicht nicht gerechnet“. An der Sache ändern wird aber auch die Solidarität nichts. Erstens hat der Bauer seinen Tieren auf der vorgegebenen Weide die Kuhglocken abgenommen – sogar morgens wie abends, so wie es sich sein Nachbar und seine Unterstützer gewünscht hatten.
Die Glocken sind weg – 24 Stunden am Tag
„Alles andere hätte keinen Sinn ergeben, ich kann und will nicht abends auf die Uhr schauen und die Weide hochgehen wegen der Glocken“, sagt Brechbühl. Im schlimmsten Fall hätte ihm bei Nichteinhaltung der nächtlichen Ruhezeiten ein Bußgeld gedroht.
Auch rechtlich ist die Sache klar: An der Entscheidung des Kantons gebe es nichts mehr zu deuteln, bestätigt die Berikoner Gemeindeschreiberin Michelle Meier, die Regeln gelten ab sofort. Die Weidenglocken-Ausnahme muss ferner aus dem Polizeigesetz verschwinden.
In diesem Zuge will die Gemeinde gleich das gesamte Reglement überprüfen und überarbeiten. „Es wird aber sicherlich erst nach den Sommerferien der Fall sein“, sagt Meier. Dann also, wenn alle zurück im Ort sein werden – auch von nächtlichen Kuhglocken geplagte Anwohner.