Wem die Stadt zu stressig wird, der sollte erst mal die Provinz kennenlernen! Was im Urlaub wie die reinste Idylle anmutet, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Brennpunkt globaler Umwälzungen. Phänomene wie Klimawandel, Digitalisierung oder auch Migration zeigen sich auf dem Land oft deutlicher als im urbanen Raum, die Konsequenzen sind unmittelbarer, und die möglichen Lösungsansätze liegen in noch weiterer Ferne.

Die Welt erfahrbar machen

Der Oberösterreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker ist selbst auf dem Land aufgewachsen. Er beschreibt es heute als seine Verpflichtung, „die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt“. Der neue Roman des 33-Jährigen, „Enteignung“, spielt zwar an einem fiktiven Ort. Er lässt aber erahnen, was wirklich los ist in den so gerne romantisch verklärten Landstrichen des Schwarzwalds, des Hochrheins oder auch des Linzgau.

Reinhard Kaiser-Mühlecker.
Reinhard Kaiser-Mühlecker. | Bild: Arne Dedert

Im Roman versucht die Lokalzeitung, mit immer reißerischen Geschichten der Digitalisierungskrise zu entkommen. Redakteur Jan, Ich-Erzähler dieses Romans, muss um seinen Job bangen. Der Journalistenberuf hat ihm zuletzt ein Nomadenleben beschert, statt einer Familie wartet deshalb zu Hause nur ein Kater auf ihn.

Mehrere Affären

Eines Tages verliebt Jan sich in Ines: Einsam ist auch sie, woher ihre Kinder kommen und was genau sie in den Ort verschlagen hat, ist jedoch ungewiss. Fest steht jedenfalls, dass Ines keine Bindungen eingehen kann und verzweifelt mehrere Affären gleichzeitig unterhält. Eine davon ist der Bauer Flor, klar, der hat ja sonst keine Sorgen.

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Von Eifersucht gepackt, beschließt Jan, sich dem Landwirt als Praktikant anzudienen. Vielleicht kann er ihm eine Falle stellen und der Ehefrau zum Beispiel einen Hinweis geben. Doch kaum steht Jan im Stall, bekommt er auch schon die harte Realität des Bauernlebens zu spüren.

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Freizeit gibt es kaum, das Ehepaar schuftet von früh bis spät, und nebenbei müssen sie sich auch noch mit dem Gemeindevertreter Beham herumschlagen: Der will sie nämlich enteignen, um auf ihrem Grund einen Windpark zu errichten.

Schnelles Treiben in der Jägerhütte

Wann zum Kuckuck kommt Flor bei all dem Stress überhaupt dazu, sich mit Ines zu treffen? Jan findet es heraus: sonntags, wenn die Ehefrau Hemma in der Kirche sitzt. Die beiden treiben es schnell und heimlich in der Jägerhütte – Romantik sieht anders aus.

Liebe als Machtinstrument

Kaiser-Mühlecker beschreibt Menschen im seelischen Ausnahmezustand. Unter dem schwer lastenden Druck der Veränderung ist sich jeder selbst der Nächste. Die Liebe wird zum Instrument der Macht und Triebabfuhr: In seinem sonntäglichen Abenteuer findet Flor ein letztes Stück Freiheit und Selbstbestätigung. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis seine Frau Hemma erstens dahinter kommt und zweitens selbst nach dieser Freiheit giert. Schon bald findet sich Jan seinerseits in der Rolle des Betrügers wieder: Er trifft sich regelmäßig mit der Frau des Bauern zum Quickie zwischendurch.

Ein Akt der Verzweiflung

Das Ganze ist alles andere als lustvoll, eher ein Akt der Verzweiflung. Hemma und Jan bekämpfen einander mit bisweilen erschreckender Skrupellosigkeit, selbst Mord scheint bald nicht mehr ausgeschlossen. Soll der Hof bleiben, muss Beham sterben: Jan könnte ihn doch scheinbar versehentlich von der steilen Stiege stoßen, wenn er wieder einmal da ist, um die Sache mit dem Windpark zu besprechen!

Drückende Atmosphäre

So virtuos wie souverän flicht Kaiser-Mühlecker zahlreiche Krisenphänomene unserer Zeit ineinander. Die Sommerhitze steht nicht allein als Metapher für die drückende Atmosphäre in der Gesellschaft, sie spielt auch auf die veränderten klimatischen Bedingungen der Landwirtschaft an. Von „wolkenbruchartigen Regenfällen“ ist die Rede und von Kulturen, die gleichwohl unter Wassermangel leiden, weil die völlig ausgetrocknete Erde die plötzlich niederprasselnden Regenmassen überhaupt nicht aufnehmen kann.

Auch die Reichsbürger sind da

Sogar das Thema Reichsbürger taucht plötzlich auf. Es erscheint im Gewand der Freemen-Bewegung in den USA, als deren Anhänger Flor verdächtigt wird. Schon in den 1970er-Jahren vertraten nämlich amerikanische Bürger die Ansicht, sie könnten ein eigenes Rechtssystem ausrufen. Indem der Autor seine Figur dieser Gruppe zuordnet statt den Reichsbürgern, umgeht er ideologisch völkische Aspekte und macht stattdessen das rationale Motiv verständlich: Von einem Staat, der seinen Bürger mit den Veränderungen allein lässt, kann sich Flor gar nicht vertreten fühlen.

Ein Klischee lässt träumen

Es entbehrt nicht der Ironie, wenn der längst von den Nöten der Landbevölkerung förmlich aufgesogene Journalist schließlich von einem Boom auf dem städtischen Zeitschriftenmarkt spricht: davon, dass jene Magazine besonders gut laufen, die sich mit dem Landleben beschäftigen. Es ist das Klischee, das die Menschen träumen lässt.