Beginnen wir mit einem Klassiker des tiefgründigen Humors, einem Aphorismus des berühmten Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Er lautet wie folgt: „Wie geht‘s?, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, antwortete der Lahme.“

Der Kitzel des Tabus

Generationen von Dichtern und Philosophen haben diese Mischung aus Sprachwitz, Tabu-Kitzel und Lakonie bewundert. Heute müsste Lichtenberg sich mit seinen bissig ironischen Spitzen warm anziehen: Ein Scherz auf Kosten von Menschen mit körperlichen Gebrechen? Die öffentliche Empörungswelle wäre garantiert, Konsequenzen für die berufliche Karriere nicht ausgeschlossen.

Lichtenberg ist bei Weitem nicht der einzige Autor, dessen Humorverständnis vor dem heutigen Publikum keine Gnade fände. Oscar Wilde etwa („Bigamie ist es, eine Frau zu viel zu haben, Monogamie dasselbe“) sähe sich wohl des Sexismus bezichtigt, Heinrich Heine („Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können“) des Rassismus. Kein Zweifel: Lachen ist eine komplizierte Angelegenheit geworden.

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Man macht einfach keine Witze mehr über andere Menschen, nicht über ihr Aussehen und nicht über ihre körperliche Verfassung, nicht über ihre Herkunft und schon gar nicht über ihr Geschlecht. „Satire darf alles“, sagte einst Kurt Tucholsky. Heute, wo im Internet auf jede ironische Spitze, jedes gewagte Witzchen eine Welle der Empörung folgt, lautet die Devise: „Satire darf fast nichts mehr.“

Kohl war noch „Birne“

Auf den Schutz des sittenstrengen Publikums können sich selbst die Mächtigen verlassen: Musste sich Helmut Kohl noch als „Birne“, „Dicker“ oder „pfälzischer Trampel“ verspotten lassen, bleibt Angela Merkel von derlei Unverschämtheiten verschont. Wagt doch mal jemand eine kleine, kalkulierte Geschmacklosigkeit – wie kürzlich der Komiker Faisal Kawusi auf ProSieben mit einer Anspielung auf Merkels Zitteranfälle –, folgt zuverlässig ein Sturm der Entrüstung. Gegenstimmen: Fehlanzeige.

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Es führt in die Irre, die Ursache für diese Entwicklung in der Nazizeit zu suchen, als Begriffe wie Heines „Menschenrasse“ eine ganz neue, schlimmstmögliche Bedeutung erhielten. Denn erstens ist die neue Empfindlichkeit gegen potenzielle Diskriminierung aller Art international. Zweitens hatte ein mit Tabugrenzen spielendes Witzverständnis – die Kohl-Witze beweisen es – auch nach dem Nationalsozialismus noch lange Bestand.

Pilatus mit Sprachfehler und zwei römischen Soldaten: Monty-Python-Fans lieben den Film „Das Leben des Brian“.
Pilatus mit Sprachfehler und zwei römischen Soldaten: Monty-Python-Fans lieben den Film „Das Leben des Brian“. | Bild: imago stock&people

„Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen!“, reimte in den 80ern Robert Gernhardt. Und in den 90ern fragte Harald Schmidt im Fernsehen: „Wenn Männer schwanger werden können, heißt das dann umgekehrt, Frauen können in Zukunft auch Auto fahren?“ Deutlich markigere Provokationen des Entertainers wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst zitieren. Zu heikel erscheint das heutzutage.

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Warum das so ist, erklärte Schmidt kürzlich in einem Interview selbst. Man müsse heute damit rechnen, so sagte er, „dass alles über ein soziales Netzwerk gleich rausgeht, verkürzt, falsch mitgeteilt und falsch kommentiert wird.“ Unter den heutigen Maßstäben wäre deshalb für seine Show schon nach einer Woche Schluss gewesen.

Kabarettist Harald Schmidt: Seine Sprüche sind heute nicht mehr fernsehtauglich.
Kabarettist Harald Schmidt: Seine Sprüche sind heute nicht mehr fernsehtauglich. | Bild: Christoph Schmidt

Man muss diese Vorstellung nicht schlimm finden. Gerade Harald Schmidt hat genügend Anlass geboten, über die Grenzen des guten Geschmacks zu streiten, von Polen-Witzen bis zum Outing homosexueller Kollegen. Das Problem ist nicht der Streit. Das Problem ist seine Abwesenheit.

Moralapostel unterwegs

Soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook machen aus demokratischen Diskursteilnehmern Moralapostel. Anstelle der Kontroverse tritt ein Bekenntnis: Indem ich erhobene Daumen und Herzchen verteile, offenbare ich mein Weltbild. Satire, die mit dem Tabu spielt, bestätigt dieses Bild, indem es dasselbe für einen kurzen Moment unterläuft. Aus der Reibung entsteht der Witz: eine kleine Unverschämtheit, die uns hilft, Selbstverständliches noch einmal neu zu überdenken, aus einer anderen Perspektive zu betrachten, es vielleicht um ein bislang unentdecktes Körnchen Wahrheit zu bereichern.

Unbehagen ist Sinn der Sache

Solche Provokationen eignen sich nicht für „Daumen hoch“. Sie sind vielmehr auf ein Lachen aus, das im Halse stecken bleiben soll. Das Unbehagen ist Teil und Sinn der Sache.

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Provokation und Tabubruch sind klassische Stilmittel der Satire: zu finden bei antiken Komödiendichtern wie Aristophanes, Barockdichtern wie Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen oder auch modernen Komikergruppen wie Monty Python. Zwar ließe sich einwenden, dieses Stilmittel hätte schon längst abgeschafft werden müssen, um endlich ein friedliches, respektvolles Miteinander zu ermöglichen. Das Zwischenfazit unseres um satirische Provokationen befreiten Zeitalters aber fällt ernüchternd aus: Die Tabubrüche selbst sind keineswegs verschwunden, sondern nur vom Humor auf den vollen Ernst ausgewichen. Friedliches Miteinander? Keine Spur.

Ein Humor der Selbstbestätigung

Worüber also noch lachen, wenn der Witz niemandem mehr wehtun darf? Das Fernsehen geht schon längst auf Nummer sicher: Vorzeige-Satiriker wie Jan Böhmermann oder Oliver Welke von der ZDF-heute-show pflegen einen Humor der Selbstbestätigung. Zielscheiben ihres Spotts sind vor allem Rassisten, Diktatoren und Terroristen: Personengruppen, die kein vernünftig Denkender in Schutz nehmen würde. Richtet sich die Ironie indes gegen bundesdeutsche Politiker oder gar uns selbst, wird sie auffallend zahm. Dann täuschen Ausdrücke der Fäkalsprache Tabubrüche vor, die bei näherer Betrachtung gar keine sind.

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Lustvolle Provokateure wie Heinrich Heine, Oscar Wilde oder auch Monty Python waren Störenfriede aus Überzeugung. Der St. Galler Philosoph Dieter Thomä hat das Phänomen des Störenfrieds erforscht und ihm eine gesellschaftlich bedeutsame Rolle zugeschrieben. Er bewahre uns, so sagt er, vor einem „faulen Frieden“, in dem sich alle wechselseitig nur darin bestärken, „wie gut und toll“ sie seien: „Die uns Menschen gegebene Gabe der Überprüfung des eigenen Lebens geben wir an der Tür zu unserem Wohnzimmer des Spießertums ab.“

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Wollen wir nicht im Wohnzimmer des Spießertums zugrunde gehen, müssen wir den Störenfrieden wieder mehr Toleranz entgegenbringen. Weniger Empfindlichkeit, mehr Gelassenheit, öfter mal über uns selbst lachen statt beleidigt Erbsen zu zählen. Vielleicht hilft uns dabei ja ein weiterer Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg: „Widerwärtigkeiten sind Pillen, die man schlucken muss und nicht kauen.“