Der im 17. Jahrhundert lebende Philosoph Blaise Pascal ist der Ansicht gewesen, das ganze Unglück der Menschen rühre allein daher, dass sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben. Das mag angesichts der heutigen digitalen Möglichkeiten nur noch zur Hälfte stimmen. Heute vermag manch computertechnisch versierter Schüler sogar aus seinem Kinderzimmer heraus das Sicherheitssystem des Deutschen Bundestags aus den Angeln zu heben.

Nichts ist so spannend wie die eigene Wohnung

Der Umkehrschluss aber ist so wahr wie zu Pascals Zeiten: Wer die großen Abenteuer sucht, der sollte besser nicht das Haus verlassen. Denn nichts ist so spannend wie die eigene Wohnung.

Flucht über das Haff

Man probiere es nur einmal aus und zeichne die Geschichten hinter den Gegenständen nach. Schon bald entpuppt sich die vermeintlich belanglose Kommode im Flur als Erbstück von Tante Gisela. Tante Gisela wiederum hatte sie von ihrer Mutter erhalten, die sie im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen mitbrachte. Die Flucht über das zugefrorene Haff, die Entbehrungen, die Angst vor dem Tod: So mancher Kommodenbesitzer dürfte kaum ahnen, welch geschichtsbeladenes Möbelstück er täglich meist achtlos passiert.

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Wohin eine solche Recherche führen kann, zeigt jetzt der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß. „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ nennt er seine Exkursion. Und die führt uns tatsächlich weit in die Welt hinaus – obwohl wir doch niemals die vier Wände verlassen.

Armut und Unsicherheit

Zum Beispiel führt sie uns über das von seiner Großmutter hinterlassene Rezeptbuch in die serbische Kleinstadt Futog, wo jene einst mit 18 Jahren einen Witwer heiratete, der sich als Hutmacher und Geschäftsmann verdingte. Wir tauchen ein in eine harte Realität voller Armut und Unsicherheit: Nur drei ihrer zahlreichen Kinder überleben, darunter jenes Mädchen, das später die Mutter des Autors sein wird. Die Schwester stirbt an einer Blutvergiftung wenige Wochen nach der Geburt. Schuld ist die Unsitte, schon Säuglingen die Ohrläppchen durchzustechen, damit sie später Ohrringe tragen können.

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Wir verfolgen die Vertreibung der Familie aus ihrer Heimat 1944 und die Ankunft in einem bayerischen Dorf – rat- und haltlos, zum Neuanfang gezwungen. Im Rezeptbuch bewahrt die Großmutter ein Stück kulturelle Identität: ein Anker in rauer See.

„Ulmer Schachtel“

Die Vertreibung ist allgegenwärtig, im Rezeptbuch wie im Modellboot „Ulmer Schachtel“, das nur scheinbar zufällig im Regal steht. Auf einem solchen Kahn muss nämlich vor Jahrhunderten auch der Urahn seines Vaters sein Glück donauabwärts gesucht haben. Viele verarmte Bauernbuschen aus dem Norden – als Protestanten verfolgt, von den Eltern enterbt oder als Straftäter verurteilt – machten sich damals auf den Weg in den Süden.

Veschiebungen in der Gesellschaft

Ohne die Vertreibung hätten die Eltern nie zusammengefunden. Und ohne dieses Zusammenfinden hätte es den Autor Karl-Markus Gauß nie gegeben. Wir verdanken unsere Existenz dem Leid unserer Vorfahren: eine beklemmende Erkenntnis, die sich aus diesem schnöden Zimmerrundgang ergibt.

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Der Blick aus dem Fenster befördert noch mehr Bedrückendes zutage. So erinnert sich der Autor beim Blick auf ein dreistöckiges Gebäude in der Nachbarschaft an dessen einstige Bewohner, die jüdischen Besitzer eines renommierten Kaufhauses. Was hätte er zu Zeiten der Nazi-Herrschaft hier zu sehen bekommen?

Mord auf offener Straße

Zum Beispiel Männer in schwarzen Stiefeln mit Hakenkreuzen, die das Publikum davor warnen, das „Judengeschäft“ zu betreten. Die Halbbrüder Max und Bruno, die in diesem Geschäft arbeiteten, wurden ermordet: der eine im Konzentrationslager Dachau, der andere auf offener Straße – als Einsatz einer verlorenen Wette. Er hatte zuvor einem SS-Mann als Künstlersklave dienen müssen.

Verschiebungen unserer Gesellschaft

Ein Zimmer hält nichts weniger als Weltgeschichte parat. Doch es ist nicht nur die Vergangenheit, die seinem Bewohner neue Einsichten gibt. Manches zeigt ihm ganz aktuelle Verschiebungen in unserer Gesellschaft an. Das Bücherregal zum Beispiel.

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Früher sei die darin befindliche Sammlung an Büchern immer das Erste gewesen, worüber Besucher zu sprechen pflegten. Heute dagegen: Den einen ist so ein Bücherregal gleichgültig. Andere betrachten es mit spöttischem Lächeln. Manche scheint es „nachgerade zu stören, in unsere Bücherwelt geraten zu sein, nicht anders, als wenn sie genötigt worden wären, eine Trophäensammlung mit Hirschgeweihen zu bewundern oder in einen Partykeller mit politisch bedenklichen Devotionalien hinabzusteigen“.

Die Wohnung erkunden

Die Gesellschaft wandelt sich, und nirgends lässt sich das besser erkennen als dort, wo man von ihr angeblich gar nichts mitbekommt: in den eigenen vier Wänden. Nicht jede dieser Veränderungen ist auch für Außenstehende interessant. Manche Abschweifung im Buch von Karl-Markus Gauß gerät zu ausführlich. Dennoch bereitet die Lektüre Freude, gerade wegen des lesernahen, von Eitelkeiten befreiten Duktus: Man möchte gleich beginnen, die eigene Wohnung zu erkunden.

Karl-Markus Gauß:
„Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“, Paul Zsolnay Verlag: Wien 2019; 224 Seiten, 22 Euro.