Na, auch schon was Schönes zum Muttertag besorgt? Und darf der Papa am Vatertag auch auf eine kleine Aufmerksamkeit hoffen? Sie werden Ihren Eltern doch wohl dankbar sein!
Vater und Mutter ehren
Das jedenfalls erwarten in diesen Tagen vor allem jene, die von dieser Dankbarkeit besonders profitieren: Blumengeschäfte und Pralinenhersteller. Es scheint vermessen, ihnen zu widersprechen, wo doch selbst die zehn Gebote Dankbarkeit fordern. „Du sollst Vater und Mutter ehren“, heißt es da.
Mulmiges Gefühl
Manchem ist angesichts dieses Erwartungsdrucks mulmig zumute. Das Gefühl der Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen. Und wer als Kind zu Hause Gewalt und Missbrauch erfahren musste, wird sich kaum bemüßigt fühlen, Blumen für die lieben Eltern zu kaufen. Umgekehrt hat keine Mutter und kein Vater etwas davon, wenn sich der Sohn allein wegen gesellschaftlicher Konventionen zum Besuch zwingt.
Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch hat der Frage, was wir unseren Eltern schuldig sind, ein ganzes Buch gewidmet. Ihr Ergebnis: gar nichts.

Kinder haben weder um ihr Leben gebeten noch um ihre Erziehung und Pflege. Dass Eltern sie in die Schule schicken, ein Pausenbrot einpacken und etwas Warmes zum Anziehen kaufen, ist kein Akt der Großzügigkeit, sondern ihre moralische und gesetzlich vorgeschriebene Pflicht. Überdies zeichnen sich Schuldverhältnisse dadurch aus, dass man sie im Laufe der Zeit abtragen kann. Die verbreitete Forderung nach Dankbarkeit aber sieht das nicht vor. Geht es nach den zehn Geboten, ist die Schuld niemals abbezahlt: Der Mensch bleibt schuldig, allein weil er existiert.
Das Kind ist kein Eigentum
Wenn überhaupt ein Schuldverhältnis besteht, so noch am ehesten auf Seiten der Eltern. So beschreibt Immanuel Kant in seiner „Metaphysik der Sitten“ den Akt der Zeugung als „einen solchen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben“. Väter und Mütter sollten sich hüten, diese Person als Eigentum zu betrachten. Ganz im Gegenteil: Sie schulden ihrem Kind, es so schnell wie möglich zu einem selbstbestimmten Wesen heranzuziehen.
Selbst Eltern, die ihren Kindern Unterstützung über das übliche Maß hinaus angedeihen lassen, dürfen nicht erwarten, dafür später mit Dankbarkeitsbekundungen überschüttet zu werden. Vermeintlich selbstlos finanzierte Klavierstunden und Nachhilfekurse mögen zwar gut gemeint sein. Ob aber das Kind später einmal ganz beglückt auf die vielen Nachmittage beim Klavierlehrer zurückblicken wird, ist eine andere Frage: Es ist ein schmaler Grat zwischen Unterstützung einerseits und Förderwahn andererseits.
Sohn muss für Vater zahlen
Zu Recht weist Bleisch darauf hin, dass die Erwartung unbedingter Dankbarkeit hinterfragt gehört. Fälle wie das sogenannte „Rabenvater-Urteil“, das 2014 einen misshandelten, verlassenen und enterbten Sohn dazu verdonnerte, für die Pflegekosten seines tyrannischen Vaters aufzukommen, sind moralisch kaum nachvollziehbar. Wünschenswert, sagt die Autorin, sei eine gesellschaftliche Lösung, die einerseits Kinder entlastet, andererseits auch Eltern aus einer Abhängigkeit befreit, die ihnen nicht immer angenehm ist.
Ist Dankbarkeit also eine schlechte Tugend? Keineswegs! Gute Argumente sprechen für sie. Das beste: Dankbare Menschen sind glücklicher. Dabei handelt es sich aber nicht um das Abtragen eines Schuldverhältnisses, sondern um eine angenehme Empfindung beim Nachdenken über das im Leben erfahrene Glück. Wer dankbar dafür ist, in eine wohlhabende Gesellschaft hineingeboren und von ernsten Erkrankungen verschont geblieben zu sein, der ist gegenüber negativ eingestellten Menschen im Vorteil. Natürlich kann diese Dankbarkeit auch dem Glück gelten, ein liebevolles Elternhaus erlebt zu haben. Das Problem: Dieses Gefühl lässt sich nicht erzwingen, schon gar nicht mit erhobenem Zeigefinger.
Nachteile sind auch Vorteile
Doch selbst wer Dankbarkeit beim besten Willen nicht in seinem Gefühlshaushalt zu finden vermag, sollte sich zumindest bemühen, mit seiner Familie versöhnt zu leben. Nicht, weil er eine moralische Pflicht zu erfüllen hätte, sondern weil die Nachteile einer Familie zugleich deren Vorteile sind: Das Zusammenleben mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, ist ein Trainingslabor für geistige Offenheit.
Man kann keine Ex-Mutter haben
In einer Welt, in der persönliche Netzwerke zunehmend nach der Auswahl von Gleichgesinnten entstehen, sind Familien die letzten Bastionen der Unfreiheit. Man kann Ex-Freunde und Ex-Partner haben, nicht aber Ex-Mütter oder Ex-Söhne. „In jeder Großfamilie finden sich komische, sonderbare oder gar unsympathische Menschen, die uns herausfordern in unseren Überzeugungen, die unser Weltbild infrage stellen“, sagt Bleisch. Diese vordergründige Zumutung als Gewinn zu betrachten, kann zum glücklichen Leben beitragen.
Kein schlechtes Gewissen
Wer also zum Mutter- oder Vatertag darauf verzichtet, seine Eltern mit Geschenken zu beglücken, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Fehlt die Empfindung von Dankbarkeit, so kann es dafür gute Gründe geben. Er ist aber gut beraten, zumindest den Kontakt aufrecht zu halten und sich um ein ausgeglichenes Verhältnis zu bemühen.