Eine Studie des Allensbach-Instituts hat ergeben, dass eine Mehrheit der Deutschen ihre Meinungsfreiheit bedroht sieht. Die Aufregung ist jetzt groß, diskutiert wird über politische Haltungen und digitale Plattformen, über Anstand, Erziehung und Empathie. Wenig Beachtung dagegen findet ein Begriff, der erst seit dem 19. Jahrhundert in unsere Sprache gelangte: Milieu.

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Es hat bis zur Industrialisierung eines solchen Wortes gar nicht bedurft. Nicht, weil es keine unterschiedlichen Milieus gegeben hätte: Vielmehr gab es zwischen ihnen kaum Berührungspunkte. Das änderte sich durch zunehmende Mobilität, komplexere Produktionsprozesse und eine mediale Öffentlichkeit. Plötzlich erkannten die Menschen, dass selbst Bürger ein und desselben Ortes einander sehr fremd sein können. „Milieu“ nannten sie dieses Phänomen, was so viel bedeutete wie „in der jeweiligen Mitte befindlich“.

Thomas Mann hat solche Milieus immer wieder gerne aufeinander losgelassen. In seinem Roman „Buddenbrooks“ schlägt der gutmütige Oberbayer Alois Permaneder – „kurzgliedrig und beleibt“, mit „kugelrundem Kopfe“ und „gedrungener Nase“ – wie eine Bombe in die piekfeine Lübecker Kaufmannsfamilie ein. Und im „Zauberberg„ bemüht sich die ungebildete Frau Stöhr um Anschluss ans Bildungsbürgertum, verheddert sich dabei aber auf rührende Weise in Fremdwörtern (aus „kosmetisch“ wird „kosmisch“, aus Beethovens „Eroica“ eine „Erotika“).

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Was im Milieu eines Fußballvereins so gesprochen wird, unterscheidet sich erkennbar vom Duktus eines akademischen Kongresses, und Kegelbrüder pflegen eine andere Kommunikation als politische Aktivisten. „Milieus sind grundsätzlich begrenzte soziale Kommunikationsräume“, sagt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart.

Digitalisierung verändert Milieus

Wenn heute davon die Rede ist, dass die Digitalisierung eine mindestens ebenso umwälzende Wirkung entfaltet wie einst die Industrialisierung, so trifft das vor allem auf die Milieus zu. Thomas Manns Tony Buddenbrook konnte sich vom rustikalen Herrn Permaneder scheiden lassen und ihn zurück nach Bayern schicken. Heute dagegen müsste sie wohl weiterhin seine Kommentare auf Twitter und Facebook ertragen.

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Milieus sind noch immer begrenzte soziale Kommunikationsräume. Aber anders als früher ist jeder in der Lage, sie von außen einzusehen und öffentlichkeitswirksam zu kommentieren. Der digitale Stammtisch mag sich vom Sofa aus zwar leichter bedienen lassen als der analoge in der Kneipe um die Ecke. Wenn aber statt der Kegelbrüder eine Weltöffentlichkeit mithört, ist erhöhte Vorsicht geboten: Der beiläufige Witz, die missglückte Ironie kann den guten Ruf über Jahre hinaus schwer beeinträchtigen.

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Vielen ergeht deshalb wie der armen Frau Stöhr. Statt zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, bilden sie sich in der hohen Kunst der Diplomatie aus. Es ist der vorauseilende Gehorsam vor milieufremden Beobachtern: vor Moralaposteln und Besserwissern, die nur auf eine Gelegenheit warten, sich öffentlich über andere erheben zu können. Das wohlige Gefühl der eigenen Überlegenheit lässt sich nämlich kaum leichter erzeugen als durch den Abgleich mit anderen Milieus. Die Kommunikationsräume mögen zwar sozial begrenzt sein: Räumlich aber sind sie es schon längst nicht mehr.