Flexibel musst du sein, mobil und unangepasst. Was heute so viele Arbeitgeber einfordern: Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, die diese Kompetenzen seit Jahrhunderten pflegt. Sie nennt sich „Die Jenischen“.
Ihre Vorfahren waren Händler, Kesselflicker, Scherenschleifer. Sie zogen von Ort zu Ort, immer unterwegs. Manche glauben, es handele sich um Nachfahren von Deserteuren im Dreißigjährigen Krieg. Genaueres weiß niemand.
Willkommen waren sie nie. Flexibel sein und unangepasst: Das galt bis vor Kurzem nicht als Kompetenz, sondern als Defizit. So beschimpfte man die Jenischen als „weiße Zigeuner“, steckte im Dritten Reich viele von ihnen in Konzentrationslager.
Ein Leben auf Achse
Und heute, wo die Bereitschaft zum ständigen Weiterziehen und Sich-neu-erfinden so hoch geschätzt wird wie nie zuvor? Da sind die meisten Jenischen sesshaft geworden. Ihre Lebensweise verschwindet aus unserem Bewusstsein. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der wir von ihnen lernen könnten, wie das funktionieren kann: ein Leben auf Achse zu führen, ohne soziale Sicherheiten.
In der Singener Scheffelhalle war nun unter der Regie von Mark Zurmühle die Uraufführung eines Theaterstücks zu erleben, das uns die Lebensart der Jenischen näherzubringen versucht. In „Die Reis’“, geschrieben vom Singener Autor Gerd Zahner, prallen Welten aufeinander: Stadt auf Land, Karriere auf Muße, Ansehen auf Ausgrenzung.
Reise in die Vergangenheit
Jakob, Rechtsanwalt aus Frankfurt (Georg Melich), reist mit dem Zug nach Singen. Er will seinen Vater treffen, Jakob Senior (Klaus Fischer), den Jenischen. Gerne tut er es nicht: Der Alte hatte einst Frau und Kind sitzen lassen.
Im Film sehen wir Jakob Junior auf der Fahrt durchs Hegau, sinnierend über die Gründe, sich trotzdem auf ein Wiedersehen einzulassen. Die Verfolgung der Jenischen im Dritten Reich. Ihre anhaltende Missachtung durch die Gesellschaft. Es geht darum, einer Verantwortung gerecht zu werden.
Eben noch im Film zu sehen, stolpert er auch schon auf die Bühne. Rindenmulch auf dem Boden lässt an einen Ort irgendwo am Waldrand denken. Hinten machen zwei Musik (Andreas Klumpf und Rudolf Hartmann), vorne ist ein Wohnwagen halb im Boden eingesunken (Bühne: Eleonore Bircher). Der Anwalt im blütenweißen Hemd: Er passt nicht hierher, nicht zu seinem Vater mit Lederhose und verschlissenem Hut und nicht zu dessen abgehalftertem Wagen.

Sollte der Alte gehofft haben, sein Sohn werde diesen Karren wieder aus dem Dreck ziehen, so sieht er sich getäuscht. Auf „die Reis’“, also ein Umherziehen nach jenischer Art, möchte sich der junge Anwalt jedenfalls nicht begeben. Schon allein deshalb, weil er gar nicht weiß, was ihm das bringen soll.
„Die Reis‘ selbst ist das Ziel!“, ruft der Alte. „Mein Ziel ist sie nicht!“, antwortet der Junge. Der Wagen wisse alles von der Welt, ruft der eine. Dann wisse er auch mehr über seinen Besitzer als dessen eigener Sohn, ätzt der andere.
Sie umkreisen und beschnüffeln einander wie streunende Hunde. Und bei all dem Knurren und Bellen kommen sie sich doch näher. Vor allem Jakob Junior hat viel zu lernen: zum Beispiel, dass sein Vater nicht aus freien Stücken Frau und Kind verließ. Sondern weil er sich als Jenischer im Haus ihrer Eltern nicht blicken lassen durfte.
Das Leben als Puzzle
Manchmal scheint es, als füge sich das eine Leben wie ein Puzzleteil ins andere. Etwa, wenn der alte Jakob den jungen nach seinem Alltag fragt. Nun, antwortet der Anwalt, er lebe in einer Wohnung, gehe jeden Tag zur Arbeit, treibe Sport: „Ich zähle Schritte und leider auch Zigaretten.“ Der Vater wundert sich: Wieso Schritte? Und warum Zigaretten nur „leider“?
Je mehr sie einander kennenlernen, desto mehr zeigt sich: Hinter dem Leben des jeweils anderen verbirgt sich die Vervollständigung der eigenen Existenz. Weniger Schritte, mehr Zigaretten, so könnte unsere Antwort auf den Zwang zur Selbstoptimierung lauten. Umgekehrt muss Jakob Senior lernen, dass Juristerei nicht nur dazu gut ist, unliebsame Herumtreiber zu bekämpfen: Man kann mit ihr auch Benachteiligten helfen.
Moralisiert wird nicht
Dass Gerd Zahner der Versuchung zum Moralisieren widersteht, macht diese Begegnung so interessant. Gerade, indem er den Anwalt als selbstreflektierte und kultivierte Persönlichkeit zeichnet, nimmt man ihm seine Veränderungsbereitschaft ab. Wunderbar verräterisch ist, wie häufig er in Bildern des Konsums spricht („Fremde Träume sind wie leere Teller“), während sein Gegenüber das Soziale bemüht („Die Reis‘ lehrt zu teilen“).
Klaus Fischer und Georg Melich sind auch im echten Leben Vater und Sohn. Der eine gibt den alten Jakob wunderbar störrisch: als einen, der vom Gegenüber Vertrauen einfordert, sich selbst aber nur zögerlich öffnet. Der andere überzeugt als Idealist, der an seinen eigenen Vorurteilen leidet – leider im weiteren Verlauf des Abends mit arg tränenreichem Hang zur Melancholie.
„Wir sind in der Freiheit gefangen“, sagt der Anwalt bei seiner Abreise. Umso wichtiger wäre es, den Umgang mit ihr zu lernen – von jenen, die darin Erfahrung haben.
Weitere Vorstellungen von "Die Reis'" gibt es täglich vom 10. bis 15. Oktober 2018 sowie außerdem am 17. Oktober, jeweils um 20 Uhr, in der Singener Scheffelhalle. Alle Informationen finden Sie hier.