Der Wolf ist wieder da, das erste Exemplar seit mehr als 150 Jahren. Das im Schwarzwald gesichtete Tier sieht zwar wenig furchteinflößend aus, dennoch ist die Aufregung groß: Müssen Schäfer jetzt um ihre Herden bangen? Haben sich Spaziergänger in Acht zu nehmen?

Nun ist so ein Wildtier mitten in der Zivilisation tatsächlich nicht ganz ohne. In Niedersachsen zum Beispiel ist es seit der Rückkehr des Wolfes vor rund zehn Jahren wiederholt zu Angriffen auf Schafe, Damwild und Rinder gekommen. Landwirte und Umweltschützer reden sich deshalb die Köpfe heiß über tatsächliche und vermeintliche Gefahren. Die Gründe für die verbreitete Alarmstimmung, für diese Mischung aus Sorge und Faszination, liegen tief. Der Wolf mag vor Jahrhunderten aus unserem Alltag verschwunden sein. In unseren Köpfen aber hat er überlebt: als Sinnbild des Bösen.

Da ist natürlich zunächst einmal das Märchen vom Rotkäppchen. Das kleine Mädchen allein im Wald, vom listigen Wolf schamlos ausgenutzt und am Ende aufgefressen. Psychoanalytiker haben darin eine Parabel auf die Pubertät erkannt. Die Warnung der Mutter, "nicht vom Weg abzugehen und 'das Glas' nicht zu zerbrechen", heißt es etwa bei Erich Fromm, sei "eine deutliche Warnung vor den Gefahren der Sexualität und dem Verlust der Jungfräulichkeit". Dass das junge Ding dann trotz dieser Mahnung auf den erstbesten Verführer reinfällt und – blumenpflückend – buchstäblich vom rechten Weg abkommt, erklärt der Psychoanalytiker mit einem klassischen Fall von Autosuggestion: "Um sich selbst zu überzeugen, dass es nichts Unrechtes tut, sagt es sich, die Großmutter würde sich über die Blumen freuen, die es ihr mitbringen könnte.

" Armes Rotkäppchen! Vielleicht aber auch: arme Männer! Werden sie doch in Gestalt des Wolfes als "rücksichtslose, listige Tiere" diskreditiert – und der von ihnen provozierte Geschlechtsakt als eine "kannibalische Handlung, bei der der Mann die Frau verschlingt". Böse Männer, böser Sex: Wenn es darum geht, Böses mit Bösem zu verbinden, wähnten sich die Brüder Grimm beim Wolf offenbar an der richtigen Stelle.

Warum das so ist, zeigt ein zweites Märchen. In "Der Wolf und die sieben Geißlein" folgt der Bösewicht noch ganz seinem natürlichen Trieb und nimmt statt naiver Mädchen kleine Zicklein ins Visier. Deren Mutter ist weitaus mehr auf Vorsicht bedacht als jene des Rotkäppchens: Waldspaziergänge sind für die Kleinen tabu, vor der Unbill in der großen weiten Welt schützt eine Haustür. Wer dort Einlass begehrt, hat zu klingen und auszusehen wie Mama, so einfach ist das. Doch der Wolf ist ein erfahrener Einbrecher, spielt alle Varianten so lange durch, bis auch die letzte Stelle im Sicherheitscode geknackt ist. Stimme zu tief? Kreide fressen! Pfote zu schwarz? Mit Mehl bestäuben! Erst als am Wolf so gar nichts mehr an Wolf erinnert, öffnet sich die Tür. Und die Geißlein sind – bis auf eines – dem Tode geweiht. Ein raffinierter Hund ist das, der sich da in sorgsam ausgesuchter Verkleidung durch alle Sicherheitsvorkehrungen geschleust hat: ein wahrer "Wolf im Schafspelz".

Das Vorbild für diese Redewendung und damit auch für die Märchengestalt findet sich im Neuen Testament. "Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe", zitiert das Matthäus-Evangelium Jesus Christus. Nicht nur hier ist die Rollenverteilung eindeutig. Bei Johannes wird der Messias mal als "Lamm Gottes" beschrieben, mal als "guter Hirte", der für die Schafe sein Leben lässt – anders als der bezahlte Schäfer, der seine Herde im Stich lässt, sobald er nur "den Wolf kommen" sieht.

Das Christentum hat aus dem Wolf einen Teufel gemacht, und das ist insofern bemerkenswert, als er in anderen Kulturen wie ein Engel erscheint. Für die meisten nordamerikanischen Indianerstämme zum Beispiel gilt der Wolf als Bruder des Menschen. Und in der Mongolei glaubt man noch heute, es bringe Glück, einem Wolf zu begegnen. Sogar in der antiken Mythologie ist der Wolf noch freundlicher betrachtet worden. Die alten Griechen sahen in ihm das Symbol männlicher Potenz. Die Römer glaubten, eine Wölfin habe ihre Stammväter Romulus und Remus gesäugt.

Über den Grund dieser unterschiedlichen Wahrnehmung lässt sich nur spekulieren. Naheliegend jedoch ist ein Zusammenhang mit Ackerbau und Viehzucht. Indianer etwa kannten weder Ställe noch umzäunte Weideflächen, in die ein Wolf hätte eindringen können. Die Geschichte der modernen Landwirtschaft beginnt jüngsten Erkenntnissen zufolge im Nahen Osten, der Wiege des Christentums. Im Mittelalter wuchs ihre Bedeutung, der Wolf geriet zusehends zum einzigen Störenfried in einem ansonsten funktionierenden System. Zu seiner moralischen Verdammnis lieferte die Bibel die passenden Stichworte. Am Ende steht ein Monster, das kleine Mädchen wie auch Großmütter verschlingt und es sich anschließend im Bett der Opfer bequem macht.

In Wahrheit ist so ein Wolf natürlich ebenso wenig ein Monster wie die Menschen, die ihn dazu machen. Sonst hätten sich unsere Urahnen vor dem Mittelalter wohl kaum mit seinem Namen geschmückt. Und sonst zählten diese Namen – der Wolfgang wie der Wolfram, der Rudolf wie der Ingolf – nicht heute noch zum Alltag auf deutschen Standesämtern. Am gewöhnlichsten klingt das Monster aus Grimms Märchen übrigens in der Türkei. Dort heißt "Wolf" ganz einfach: Kurt.

 

Der Einzelgänger
  • Hermann Hesse: Der Wolf hat in der Literaturgeschichte nicht nur ein moralisches Problem. In vielen Werken gilt er auch als Sinnbild der Einsamkeit. Dabei leben die allermeisten Wölfe in Rudeln – Einzelgänger sind ein eher seltenes Phänomen. In seinem Roman "Der Steppenwolf" etwa porträtiert Hermann Hesse seinen Protagonisten Harry Haller als zwar gesellschaftlich etablierte Persönlichkeit, die aber dennoch unter einer selbst empfundenen Isolation leidet. Die gefühlte Einsamkeit lässt in ihr Selbstmordpläne reifen. Wie kommt Hesse dazu, diese Empfindung mit dem Bild eines Wolfs zu verknüpfen? Wenn auch die in der Märchenliteratur übliche moralische Abwertung des Tiers in diesem Roman keine Rolle spielt, so ist doch das Motiv der Einsamkeit mit dieser Tradition verwandt.
  • Jack London: Der Roman "Der Seewolf" wurde vom amerikanischen Abenteuerautor Jack London zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben. London beschreibt darin einen nach sozialdarwinistischen Überzeugungen handelnden Kapitän. Indem der Seemann Wolf Larsen das menschliche Dasein als einen reinen Überlebenskampf begreift und jede Form von Nächstenliebe als dumme Schwärmerei abtut, begibt er sich selbst in eine Außenseiterrolle, bis ihn eine schwere Krankheit trifft. Dass London den hier zum Ausdruck kommenden Sozialdarwinismus mit dem Wolf assoziiert, dürfte auf einen bekannten Ausspruch des Philosophen Thomas Hobbes zurückgehen.
  • Thomas Hobbes: Er prägte im 17. Jahrhundert den Satz: "Homo homini lupus" – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Zwar war damit das Verhältnis von Staaten zueinander gemeint. Doch der Satz wurde schon bald als Ausdruck eines in jedem Menschen verwurzelten Egoismus verstanden. (brg)