Wer in diesem Land eine historisch aufgeklärte Erziehung genossen hat, weiß: Als Deutscher trägst du keine Schuld, sehr wohl aber Verantwortung. Wundere dich nicht, wenn man dich im Ausland auf Verbrechen anspricht, die im Namen deines Landes begangen wurden! Habe Verständnis, wenn Richard Wagners Opern auf manchen Bühnen unerwünscht sind! Sei nicht genervt, wenn du dazu angehalten wirst, deine Haltung zu neurechten Umtrieben zu erklären!
Man möchte meinen, die These von der Mitverantwortung eines Staatsbürgers am Handeln seiner politischen Führung sollte dann besonders wirksam sein, wenn dieses Handeln nicht Generationen zurückliegt, sondern jetzt ganz aktuell seine fürchterlichen Folgen zeigt. Doch wer so denkt, kennt die Deutschen nicht. Denn so unerbittlich, wie sie mit sich selbst ins Gericht gehen, so weit sind sie davon entfernt, diesen Maßstab an andere anzulegen.
Insbesondere im Kulturbetrieb lässt sich beobachten, wie aus dem Überfall auf die Ukraine eine Sorge vor Diskriminierung abgeleitet wird. Wohlgemerkt: Nicht etwa den brutal aus ihren Wohnungen gebombten Flüchtlingen gilt diese Sorge. Nein, es könnte sein, dass sich manch russische Künstlerseele benachteiligt fühlt, wenn man sie mit gar zu politischen Fragen belästigt. Im Gegenteil: Gerade jetzt müssen wir sie alle einladen, umarmen, mitnehmen!
Warnung vor „pauschaler Verurteilung“
Der SWR zum Beispiel sieht keinen Grund, den Chefdirigenten seines Sinfonieorchesters und Profiteur der russischen VTB Bank, Teodor Currentzis, zur Distanzierung von Wladimir Putin zu drängen. Vor „pauschaler Verurteilung“ warnt Intendant Kai Gniffke: Da hat uns der SWR-Chef aber gerade noch vor unbedachter Diskriminierung bewahrt!

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier organisiert ein Benefizkonzert für die Ukraine. Es treten auf: ein russischer Bariton und ein russischer Pianist, zu hören sind Werke von Tschaikowsky und Schostakowitsch. Große Verwunderung über die Absage des ukrainischen Botschafters! Ein Ukrainer, der in diesen Tagen doch tatsächlich nicht so große Lust auf russische Musik empfindet: Er wird doch nicht etwa russophob sein?
Keine Frage, weder die in bester Absicht angereisten (und im Unterschied zu Currentzis nicht um klare Worte verlegenen) Musiker noch längst verstorbene Komponisten können etwas für die Zustände in Mariupol. Aber einem Botschafter russische Hochkultur zu präsentieren, während Putins Panzer seine Heimat niederwalzen: Auf diese Idee kommt nur ein deutscher Bundespräsident.
Überboten wird derlei nur vom CDU-Politiker Ruprecht Polenz. Er wirbt dafür – jetzt erst recht! –, über Städtepartnerschaften russische Bildungsreisen anzubieten. „Auf dem Besuchsprogramm: Gespräch mit ukrainischen Flüchtlingen in den Flüchtlingseinrichtungen.“ Kommt alle her, fragt die ausgebombten Ukrainer, ob sie mit euch ein bisschen diskutieren mögen! Darüber, wie schlimm das ist mit dem Krieg und so. Deutschland-Ausflug mit Flüchtlingsbesichtigung: Auch so was ist gewiss nur supergut gemeint.
Ja, es gibt zurzeit gewiss inakzeptable Fälle von Anfeindungen russischer Bürger. Und nein, nicht alle Inhaber eines russischen Passes befürworten diesen Krieg. Nur wäre es schön, wenn man das in unserem freien Land auch mal zu sehen bekäme. In Prag haben am Wochenende rund 3000 Russen gegen Putin und den von ihm verantworteten Kriegseinsatz protestiert. Sie wollten „klarstellen, dass nicht alle Russen heimliche Unterstützer des Kremlchefs Wladimir Putin seien“. Auf ein solches Signal, hieß es, warte die tschechische Gesellschaft. Bravo! Es geht also.
Nur mal als hypothetische Frage: Dürfte man sich nach inzwischen einem Monat Angriffskrieg ein solch eindrucksvolles Bekenntnis zu unseren Werten eigentlich auch von hier lebenden Russen wünschen? Oder wäre, wer sich so was wünscht, wieder voll reingetreten, in die Diskriminierungsfalle?