Kuriose Figuren, absurde Wendungen, gewissenlose Profiteure – und immer geht es um Leben und Tod: An manchen Tagen mutet dieser Corona-Wahnsinn an wie ein Shakespeare-Drama. Und wie im Theater ist es auch in unserer Wirklichkeit oft nur eine Frage der Perspektive, ob wir gerade einem Trauerspiel beiwohnen oder vielmehr einer Schwarzen Komödie.
Zu deren Merkmal gehört, dass ausgerechnet jetzt sämtliche Regisseure und Schauspieler zum Zuschauen verdammt sind. Doch die Kunst findet dennoch ihren Weg.
Wenn Nicolas Stemann, Regisseur und Intendant des Zürcher Schauspielhauses, schon kein Theater machen darf, dann wechselt er eben die Branche. „Corona-Passionsspiele“ heißt sein jetzt erschienenes Musikalbum. Es ist das Ergebnis eines gleichnamigen Bühnenprojekts, mit dem das Ensemble im vergangenen Jahr die Pandemie künstlerisch verarbeitete. Vor allem aber ist es der perfekte Soundtrack zur Krise.
Da wirft ein flotter Ragtime eine inzwischen nur allzu vertraute Frage auf: „Wie sind denn die Zahlen heute?“ Woraufhin ein betont naiv geträllerter Refrain die ebenso erfrischende wie erheiternde Antwort liefert: „Die Zahlen gehen nach oben, die Zahlen gehen nach unten, die Zahlen gehen geradeaus.“ Ja, aber die Kurve! Wie steht es denn mit der? „Die Kurve geht nach oben, die Kurve geht nach unten, die Kurve geht nach Haus.“
Ja, so klingt sie doch, unsere allmorgendliche Datenabfragerei am Frühstückstisch! Vielleicht nicht ganz so beschwingt, dafür aber fast genauso absurd.
„Ich schick‘ dir mal ‚nen Link!“
Und auch im folgenden wuchtigen Einschub fühlen wir uns irgendwie ertappt. „Keiner kennt sich aus, aber alle haben eine Meinung“, ruft der Sänger und stellt klar: „Es gibt keine Meinung außer meiner Meinung! Wenn jemand das und das postet, ist er nicht mehr mein Freund!“ Schön auch: „Ich kann‘s dir nicht erklären, aber ich schick‘ dir mal ‚nen Link!“
So geht es weiter, jeder Satz ein echter Corona-Alltags-Volltreffer. Da nölt ein Lockdown-Stubenhocker herrlich trotzig: „Ich bleib‘ auf meinem Zimmer und zwar für immer, da wird‘s nicht schlimmer, lass das Gewimmer, wir hamm doch Internet!“ Und wenig später stimmt ein grotesker Reggae ein bekifftes Loblied auf manch manch skurrilen Demonstrationszug an: „Nazi-Hippies, oh oh! In Berlin! Yeah! Love, Peace and Harmony sind viel besser als Demokratie.“
In den allerstärksten Momenten dieses zutiefst ironischen Musicals lassen Stemann und sein Ensemble ihre Haltung in der Schwebe. Dann weiß man nicht recht, wo die Zustandsbeschreibung endet und Kritik beginnt. Etwa im Fall des alten Mannes, der im Pflegeheim umsonst auf Besuch wartet. „Denn seien wir ehrlich“, lautet der mahnende Refrain: „Das wär‘ zu gefährlich.“ Wirklich?
„Oh, Oma“, ruft die Stimme sogleich in bestechend naivem Tonfall: „Ich würd‘ dich gern besuchen, doch du liegst im Koma. Darum lasse ich das lieber sein, ein Glück, lebst du im Pflegeheim!“

Manchmal entlarvt dieses Album die Selbstgefälligkeit, mit der wir auf andere herabblicken. Etwa, was das Tragen von Atemschutzmasken betrifft. „Bei manchen Völkern war das lange schon en vogue, das schien so manchem hier suspekt. Solch ein Gebaren gebührt doch nur Barbaren!“ Nur ein Jahr später hat sich die verbreitete Ansicht um 180 Grad gedreht: „Barbarisch ist, wer sein Gesicht jetzt nicht bedeckt.“
„Rettet den Skisport!“
Natürlich kommt auch das Schicksal der Künstler zur Sprache. „They don‘t care about artists“ lautet der Titel eines depressiven Blues, in dessen Anschluss unmissverständlich klar gemacht wird, welche Wirtschaftsbereiche wichtiger sind als Bühnen, Konzerte und Museen. „Rettet den Skisport! Seht all die Pisten, blau, schwarz, rot: Dicht gedrängt in der Gondel schweben wir bis in den Tod.“ Die Luftfahrt gelte es zu retten, heißt es, den Einkauf („auf geht‘s zu Globus und Ikea, das ist Kultur, Theater gibt es ja nicht mehr“) und natürlich die Autos: „Sie wollen leben so wie wir. Drum lass sie doch fahren alle Tage hin und her!“
Am Ende melden sich die Viren mit einer verstörenden Botschaft selbst zu Wort. „Ihr seid die Krankheit, wir die Kur“, singen sie. „Wir sind der Impfstoff des Planeten, dieses Mal wird alles gut. Dann hilft euch nur noch beten, was nun mal nicht helfen tut.“ Was für eine närrische Sichtweise? Vielleicht in der Art, wie der Narr in Shakespeares „König Lear“ unbequeme Wahrheiten ausspricht.
Seien wir froh, solange wir zwischen dem Schlucken solch bitterer Pillen noch lachen können. Auch wenn dieses Lachen beim Hören der „Corona-Passionsspiele“ oft genug im Hals stecken bleibt. Zu hören sind sie übrigens bei allen gängigen Streaming-Anbietern, etwa Spotify. Als CD soll sie demnächst auch erhältlich sein, allerdings nur in limitierter Anzahl.
„Corona-Passionsspiele (live aus dem Schiffbau)“: seit dieser Woche auf Spotify und anderen Streamingdiensten erhältlich. Weitere Informationen: www.schauspielhaus.ch