Der Begriff „Soundtrack“, ursprünglich bloß die Tonspur eines Films, gilt heutzutage als Synonym für Filmmusik. Zum „Soundtrack eines Lebens“ gehören Lieder, die man mit wichtigen Ereignissen wie etwa der ersten großen Liebe assoziiert. Natürlich lässt sich dieses Prinzip auch auf ein Land übertragen, und deshalb haben die FAZ-Redakteure Oliver Georgi und Martin Benninghoff ihre Reise durch die deutsche Musikgeschichte „Soundtrack Deutschland“ genannt. Der Untertitel des Interviewbuchs lautet „Wie Musik Made in Germany unser Land prägt“.
Tatsächlich verhält es sich genau andersherum: Musik war und ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Die Fünfzigerjahre werden gern mit Rock‘n‘Roll und Elvis Presley assoziiert, aber hierzulande wurde die Volkskultur vom Heimatfilm dominiert. Nach Faschismus und Krieg ging es auch in der Musik um die Sehnsucht nach einer heilen Welt; Cornelia Froboess sang „Pack die Badehose ein“ (1951), Freddy Quinn hatte „Heimweh“ (1956).
Die Sechzigerjahre klangen nicht viel anders. Heino erzählt den FAZ-Autoren zwar, zu Beginn seiner Karriere sei im Radio nur englischsprachige Musik gelaufen, weshalb seine Volkslieder zunächst kein Gehör gefunden hätten, aber das ist nur die halbe Wahrheit, wie Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger gegenüber dem SÜDKURIER korrigiert. „Radiosender waren damals Vollprogramme, die all das boten, wofür es heute sogenannte Wellen gibt: Klassik, Kultur, Information und natürlich populäre Musik, die allerdings ebenso wie die Verkaufshitparade größtenteils aus Schlagern bestand.“
Dass Heino anfangs auf taube Ohren stieß, hatte mit Vorbehalten der Redaktionen gegenüber seinem Liedgut zu tun: Weil die Nationalsozialisten Swing und Jazz konsequent ausgemerzt hatten, blieben zwischen 1933 und 1945 bloß noch Volkslieder, denen daher ein braunes Stigma anhaftete.
Diese Distanz prägte laut Hallenberger auch die Jugendkultur, also das, was man gemeinhin unter Popkultur versteht. Deutsche Texte standen für den Mief, den die Studenten 1968 hinwegfegen wollten, weshalb Beatbands wie die Lords oder die Rattles auf Englisch sangen. In der DDR war es genau umgekehrt: Englisch war die Sprache des Klassenfeinds, deutsch deshalb Pflicht.
Im Westen hingegen galt in den Augen der überwiegend linken Studenten als mindestens konservativ, wer deutsche Lieder sang (und hörte), allerdings mit Ausnahme linker Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, 1965), Hannes Wader („Heute hier, morgen dort“, 1972) und später Konstantin Wecker („Willy“, 1977) oder Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ (1970).
Kein Entkommen vor dem Schlager
Aber selbst Udo Lindenberg löste mit seinem ersten Hitalbum „Alles klar auf der Andrea Doria“ (1973) noch keinen Paradigmenwechsel aus. Wer seine Kindheit und Jugend in den Sechzigern und Siebzigern verbracht hat, wird zwar den einen oder anderen Lindenberg-Evergreen zum „Soundtrack seines Lebens“ zählen, kann aber garantiert auch „Ganz in Weiß“ (Roy Black, 1966), „Mama“ (Heintje, 1967), „Du“ (Peter Maffay, 1970), „Blau blüht der Enzian“ (Heino, 1972) oder „Tränen lügen nicht“ (Michael Holm, 1974) mitsingen, ganz zu schweigen von „Fußball ist unser Leben“, dem Lied der Fußballnationalmannschaft zur WM 1974: weil es damals kein Entkommen vor dem Schlager gab.
Dessen wichtigste Bühne war die 1969 gestartete „ZDF-Hitparade“. Moderator Dieter Thomas Heck fiel sichtlich vom Glauben an das Gute in der Musik ab, als er in den frühen Achtzigern nicht umhinkam, auch Vertreter der Neuen Deutschen Welle wie etwa Geier Sturzflug („Bruttosozialprodukt“, 1982) ankündigen zu müssen. Fröhliche NDW-Hits wie „Ich will Spaß“ (1982) von Markus waren nicht zuletzt eine Reaktion auf die düsteren RAF-Jahre und letztlich Schlager in flotter Verpackung. Auch Bands wie Extrabreit, die ihre Wurzeln im Punk hatten, wurden kurzerhand in die NDW eingemeindet.
Der westdeutsche Soundtrack
Tatsächlich hatten sie Ende der Siebziger die Basis gelegt, denn Punk setzte gegen den Trend auf deutsche Texte; bis er selbst zum Trend wurde. Immerhin eroberte deutsche Popmusik zum ersten Mal den Mainstream, allen voran Nenas „99 Luftballons“ (1983). Auch dieses Lied gehört zum westdeutschen Soundtrack, weil die Sängerin laut Kai Havaii (Extrabreit) einen neuen Typ Frau verkörperte: modern, selbstbewusst, ichbezogen „und sehr offensiv in dem, was sie tat.“
Deutsch als Sprache der Popmusik blieb: dank BAP („Kristallnaach“, 1982), Herbert Grönemeyer („Männer“, 1984), Marius Müller-Westernhagen („Freiheit“, 1987) oder den Toten Hosen („Hier kommt Alex“, 1988), die allesamt ganze Stadien füllten. Zur gleichen Zeit setzte laut Hallenberger eine Fragmentierung des Musikmarktes ein: Fortan gab es mit Pop, Rock, Rap, Hip-Hop und Techno für jeden Geschmack etwas.
Befreiung vom Mief
Bloß der Schlager schien nicht mehr zeitgemäß. International spielte er ohnehin keine Rolle. Auslandserfolge feierten Elektronik-Bands, in deren Musik deutsche Sprache nicht vorkam (Tangerine Dream) oder nur eine untergeordnete Rolle (Kraftwerk) spielte. Die bereits 1965 gegründeten, weltweit erfolgreichen Scorpions („Wind of Change“, 1990) haben dagegen selbstverständlich englisch gesungen; „das war wie eine Befreiung von dem Mief“, sagt Klaus Meine in dem Interviewbuch.
Womöglich hätte auch Helene Fischer („Atemlos durch die Nacht“, 2013) das Zeug zur internationalen Karriere, aber ein Weltstar ist sie nur in Deutschland. Mit ihr schließt sich der Kreis: Ihre Heile-Welt-Texte, sagt Meine, treffen offenbar einen deutschen Nerv, „und das zeigt wieder mal: Musikalisch bleibt das hier Schlagerland“.
Die introvertierten Lieder von Sängern wie Max Giesinger („Wenn sie tanzt“, 2016) oder Mark Forster („Wir sind groß“, 2016) sind auch eine Reaktion auf Globalisierung und Digitalisierung, von der Corona-Pandemie ganz zu schweigen: Wem die Welt allzu unübersichtlich und bedrohlich erscheint, reagiert mit einem Rückzug nach innen. Kein Wunder, dass Kritiker von „NDW 2“ sprechen: Neue Deutsche Weinerlichkeit.
Buchtipp: Oliver Georgi, Martin Benninghoff: „Soundtrack Deutschland. Wie Musik Made in Germany unser Land prägt“ (Edition Michael Fischer, Igling. 240 Seiten, 36 Euro). Das Buch enthält 23 Interviews unter anderem mit Peter Maffay, Heino, Wolfgang Niedecken, Extrabreit, Klaus Meine, Yvonne Catterfeld, Reinhard Mey und Marius Müller-Westernhagen.