Ob Kunst wirklich imstande ist, die Welt zu verändern? Zur Eröffnung der documenta 14 in Kassel zeigt sie zumindest, dass sich diese Welt bereits verändert hat. Ablesen kann das Publikum diesen Umstand schon allein an ihren Begleiterscheinungen. Vor dem spektakulärsten Objekt der Schau etwa, einem „Parthenon der Bücher“ von Marta Minujín, flankieren robuste Betonsteine die angrenzende Straße. Ein Sicherheitsdienst bewacht das Gelände, die Polizei ist mit Streifenwagen präsent. Ein Angriff auf Besuchermassen wie noch im Dezember in Berlin scheint hier nicht möglich.

Es ist von Vornherein eine denkwürdige Ausgabe der wohl weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Gegründet in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs war die documenta schon immer von einer idealistischen Hoffnung getragen – dass in einer Gesellschaft, die sich mit Kunst auseinandersetzt, Hass, Gewalt und Intoleranz keinen Platz mehr haben könnten. Über 60 Jahre später scheint die Hoffnung geplatzt. Terrorismus, Rechtspopulismus und Nationalismus hat wohl auch Kunst nichts entgegenzusetzen.

Bei der Pressekonferenz zur Eröffnung ist die Ratlosigkeit im Leitungs-Team der documenta mit Händen zu greifen. Ob die deutsche Neigung, Lösungen für soziale Konflikte in der Kunst zu suchen statt in der Konfrontation mit Machthabern, immer so erfolgreich gewesen sei, dürfte man bezweifeln, gibt Kurator Dieter Roelstraete zu. „Man kann sich aber auch eine ganze Menge schlimmere Weisen vorstellen, soziale Konflikte zu lösen!“ Was sehr nach Ausrede klingt. documenta-Chef Adam Szymczyk ruft auf, sich von der Idee des Lernens durch Kunst zu verabschieden. Von einer Notwendigkeit des Entlernens spricht er stattdessen. Doch das will nicht recht passen zum Motto seiner Schau: „Von Athen lernen.“

Schließlich hat sich auch ebendiese Entscheidung – der Auszug der documenta aus Kassel nach Athen – schon früh als widersprüchlich erwiesen. Die vorzeitige Eröffnung der Schau in der griechischen Hauptstadt, ein Novum in ihrer Geschichte, war als Absage an eine bisweilen imperialistisch anmutende Europa-Politik gedacht. Am Ende aber mussten sich die gutmeinenden Organisatoren selbst den Vorwurf imperialistischer Anwandlungen gefallen lassen. Von Krisen-Tourismus war die Rede, aus verständlichen Gründen.

In Kassel sind es ausgerechnet die Exponate des Athener Museums für Zeitgenössische Kunst EMST, die am meisten überzeugen. Bemerkenswert krasse Bildsprache ist hier zu finden, etwa wenn Thanassis Totsikas in seinem Video das klassisch griechische Motiv eines Eselreiters auf idyllischem Gebirgspfad durch ein zunächst kaum auffallendes Detail verändert: Statt eines Esels lässt sich der Reiter seelenruhig von einem Menschen tragen.

Man mag in Bildern wie Kendell Geers’ „Acropolis Redux (The Director’s Cut)“ politische Bezüge erahnen: eine Tempel-Anmutung aus Stahlregalen, prall gefüllt mit unterschiedlichsten Varianten von Nato-Draht. Doch so aktuell das Werk erscheint, es datiert auf das Jahr 2004, mithin lange vor der heutigen Dringlichkeit der Flüchtlingskrise.

Wo dagegen neue Kunst tatsächlich versucht, Antworten auf aktuelle Fragen zu finden, enttäuscht sie auf ganzer Linie. Ibrahim Mahama hat bei einer Kunstaktion in Athen hunderte Jute-Säcke, wie sie für den Kakao- und Kaffee-Export verwendet werden, neu vernähen lassen. Sie verhüllen die Torwache am Kasseler Brüder-Grimm-Platz. Das Ergebnis ist ein bisschen Christo, ein bisschen Afrika, ein bisschen Kapitalismus-Kritik: zu viel Betroffenheitsgestus, zu wenig künstlerisches Risiko.

Reflexhaft und vorhersehbar

Es drängt sich über weite Strecken der Eindruck auf, die politische Entwicklung habe das Kuratoren-Team auf dem falschen Fuß erwischt. Zu vorhersehbar wirken die altbekannten Positionen gegen die Ausbeutung der Dritten Welt und die neoliberale Wirtschaftspolitik des Westens. Wer sich hier schon auf dem richtigen Pfad wähnte, wird zur Selbstbefragung keinen Anlass finden. Rettung naht durch programmatische Setzungen, die gar nicht der zeitgenössischen Kunst selbst gelten. In der Neuen Galerie zum Beispiel befasst sich die documenta mit dem Fall Gurlitt. Wie deutsche Kunstbegeisterung mit skrupellosem Raub zusammenpasste, hätte längst Zweifel an der Vorstellung einer weltverbessernden Wirkung des Wahren, Schönen, Guten erwecken können.

Interessant ist auch ein kurzer Abriss der deutschen Antiken-Verehrung, wie sie im 18. Jahrhundert vom Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann begründet wurde. Aus Tempeln und Säulen, die einst den Göttern geweiht waren, wurden in der Lesart Winckelmanns (später Goethes und Schillers) Symbole der Aufklärung. Genau darin besteht der Reiz des „Parthenons der Bücher“. Seine Schöpferin, die Argentinierin Marta Minujín, hat die Bürger aufgerufen, ihre Regale zu durchforsten. Aus einst verbotenen Werken soll für die Dauer der documenta der maßstabgetreue Nachbau (70 Meter lang, 30 Meter breit, 14 Meter hoch) entstehen. Zu großen Teilen ist der Bau vollständig. Wer durch die Säulen schlendert, wird mitunter überrascht sein, welche Titel er dort findet – von Upton Sinclairs „Öl!“ bis zu Albert Camus‘ „Die Pest“.

Der echte Parthenon aus dem fünften Jahrhundert vor Christus war als Weihestätte für die Göttin Pallas Athene wahrlich kein Ort der Meinungs- und Kunstfreiheit. Doch Minujíns aus Büchern geformte Säulen führen eindrucksvoll vor Augen, wie bruchlos sich die Werte der Aufklärung längst in religiöse Inszenierungsformen einfügen lassen. Eine ästhetisch reizvolle wie intellektuell ansprechende Attraktion: wenigstens eine unter viel Mittelmaß.

documenta 14

Die Kunstausstellung läuft bis zum 17. September. Tageskarten können im Online-Shop (www.documenta14.de) für 22 Euro erworben werden, ermäßigt für 15 Euro. Es gibt auch Abendkarten (10 Euro), Angebote für Familien (50 Euro), Schulklassen (6 Euro pro Person)sowie Zwei-Tages-Tickets (38 Euro). Dauerkarten können ausschließlich an den Ticketschaltern in Kassel gekauft werden. Tickets für geführte Spaziergänge kosten jeweils 12 Euro zuzüglich der Eintrittskarte. (dpa)