Stolz holt sie das Blatt aus dem Magazin. „Mein Kindchen“, sagt Corinna Höper. Ein „Millionen-Dollar-Baby“ würde der Kunstmarkt sagen. Für die Konservatorin der Stuttgarter Staatsgalerie war es der spektakulärste Fall ihrer Karriere. Auch nach über zwanzig Jahren hat Höper noch jedes Detail präsent.
Der Schüler war der Meister
Die Geschichte beginnt im Jahr 1996. In einem Stuttgarter Auktionshaus steht eine Versteigerung an. Beim Durchblättern des Katalogs entdeckt Höper eine Federzeichnung aus der Renaissance. Das Auktionshaus ordnet sie dem Schülerkreis Raffaels zu. Doch die Grafik-Expertin erkennt etwas anderes in dem Bild: nicht die Hand des Schülers, sondern die des Meisters. Sie will das Werk für ihr Museum ankaufen. 30.000 DM ringt Höper dem damaligen Staatsgalerie-Chef Christian von Holst dafür ab. „Es hat knapp gereicht“, erinnert sie sich, „der einzige Mitbieter stieg kurz vorher aus.“
Und so darf Stuttgart mitfeiern, wenn die Kunstwelt heute den 500. Todestag Raffaels begeht. Denn Höpers Instinkt war richtig. Das Blatt mit dem umständlichen Titel „Gott erscheint Isaak, der um die Schwangerschaft Rebekkas bittet“ wurde als eigenhändige Arbeit des Malers und Architekten aus Urbino identifiziert. Die alttestamentarische Szene entstand 1518. Sie zeigt den Entwurf für ein Fresko, das sich im päpstlichen Privattrakt des Vatikans, den so genannten Loggien, befindet.
Der einzige Raffael in Baden-Württemberg
Die Ausführung des Wandbildes übernahmen Gehilfen, die Kompositionszeichnung aber ist vom Chef: vermutlich der einzige Raffael in einem baden-württembergischen Museum. Der geschätzte Wert liegt bei zehn Millionen Euro. Höper hat den Südweststaat also um rund 9,85 Millionen reicher gemacht. Mehr bedeutet der Kunstwissenschaftlerin freilich, dass sie einen kulturhistorischen Schatz gehoben hat, den sich zum Marktpreis kein öffentliches deutsches Museum mehr leisten könnte.
Trotz der bescheidenen Abmessung von 17 mal 23 Zentimetern steckt in dem Grafikjuwel alles, was Raffael auszeichnet. „Typisch für den Künstler ist, dass die Körpersprache der Figuren dem Raum Tiefe verleiht.“ Zum Beleg verweist Höper auf die Gestalt des knienden Isaak. Energisch dreht er den Oberkörper in die Diagonale, sein weit ausgestreckter rechter Arm zeigt nach hinten auf die Stadt am Horizont. Demgegenüber ist der linke Fuß weit an den vorderen Bildrand geschoben.
Ähnlich ausgreifende Gesten, die verschiedene Richtungen in der Dreidimensionalität beschreiben, finden sich auch auf Raffaels epochalem Fresko der „Schule von Athen“. Dort ist es der Philosoph Aristoteles, der energisch die flache Hand nach vorne schiebt, während Plato zum Himmel zeigt.
Verhasster Kollege
Noch etwas anderes versteckt sich in dem „Isaak“-Blatt der Staatsgalerie: ein Hinweis auf die Konkurrenz des Künstlers zu Michelangelo. „Sie kämpften ja um dieselben Auftraggeber“, sagt Höper. Angeregt von Michelangelos Sixtinischer Decke kommt auch Raffaels Gottvater wie Superman ins Bild geflogen. Doch der Urbinate überbietet den verhassten Kollegen und stellt den Weltenschöpfer aus ungewohnter Perspektive schräg von hinten dar.
Dass Höper überhaupt auf Raffael kam, lag an Isaaks Hirtenstab. Wie die Selbstkorrekturen des Zeichners, sogenannte Pentimenti, verraten, wurde die Position des Stocks im Schaffensprozess verändert. „Dieser suchende Charakter der Linien“, betont Höper, „spricht dafür, dass hier der Meister selbst ein Gemälde vorbereitet hat.“ Für Gehilfen sei ein solches Ausprobieren ungewöhnlich. Sie hatten meist nur das zu kopieren, was der Brötchengeber ihnen vorlegte.
Führende Raffael-Forscher stützen Höpers Zuschreibungsthese. Allen voran Konrad Oberhuber, der ehemalige Direktor der Wiener Albertina. „Unsere Zeichnung war auch in einer von ihm kuratierten Raffael-Ausstellung mit dabei.“ Gleichwohl gab es im Kollegenkreis auch ein paar Zweifler, für die das Ganze nach einem viel zu schönen Museumsmärchen klang. Höper konnte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen: „Wer behauptet, das Werk stamme nicht von Raffael selbst, muss mir einen anderen Namen nennen.“ Aus dem Umfeld des Renaissancegenies sei zur fraglichen Zeit nämlich niemand reif genug gewesen, um eine Komposition dieser Qualität zu schaffen.
Kein Stempel, kein Kaufvermerk
Bleibt die Frage, auf welchen Wegen oder Umwegen die Zeichnung an den Neckar gelangte? Hier muss auch die Raffael-Kennerin passen. „Unsere Provenienzforscher“, sagt sie, „haben sich an dem Werk die Zähne ausgebissen.“ Kein Stempel, kein Kaufvermerk bietet einen Anknüpfungspunkt. „Ein Werk mit demselben Titel findet sich in einem Kölner Auktionsverzeichnis von 1902“, berichtet Höper. „Da aber eine Abbildung fehlt, muss es nicht unbedingt unser Raffael sein.“
Welcher Privatsammler das Blatt schließlich einlieferte, verrät das Stuttgarter Auktionshaus nicht. „Die Branche setzt in solchen Angelegenheiten stets auf Diskretion“, sagt Höper. Wer auch immer den Raffael zum Spottpreis weggegeben hat – falls er nicht gestorben ist, ärgert er sich bestimmt noch heute.