Es hat noch niemand einen Ton gesprochen, da ist der Abend bereits ein Erfolg. Gemeinsam unter freiem Himmel am Konstanzer Münsterplatz auf eine Bühne blicken, auf Dinge also, die endlich wieder gedeutet werden wollen statt bloß benutzt, diese kollektive Verabredung zum Kulturerleben in dürftiger Coronazeit: Mit der Premiere von „Hermann der Krumme oder die Erde ist rund“ war das am Samstagabend alles plötzlich möglich.

Alle Vorstellungen ausverkauft

Der scheidende Intendant hat dem im Mittelalter wirkenden Gelehrten – besser bekannt als „Hermann der Lahme“ oder „Hermann von Reichenau“– mit diesem eigens geschriebenen „Freilichtspektakel“ ein Denkmal setzen wollen. Zwar mag man aus guten Gründen daran zweifeln, dass es ihm bei seinem Kampf um die Umsetzung dieses Projekts so ganz allein um die Kunst ging.

Wer nach 14 Jahren an der Spitze eines Hauses gehen muss, will das nicht sang- und klanglos tun, ausgebremst von einem Virus. Doch welche Rolle persönlicher Ehrgeiz auch spielen könnte: Am Ende behauptet das Theater seine zentrale Stellung in der Gesellschaft. Alle Vorstellungen sind ausverkauft, der Durst nach Kunst lässt sich mit Händen greifen.

Und wie ist nun das Stück selbst?

An dramatisches Getümmel mit Schwertkämpfen und innigen Liebesszenen ist angesichts von Abstandsregeln und Atemschutzmasken nicht zu denken. Das Bühnenbild verfolgt deshalb die Absicht, dem notwendig statischen Geschehen eine inhaltliche Begründung zu bieten: Zwei Stahlkonstruktionen markieren die beiden Pole dieser kleinen Welt. Links die Sonne als goldenes Gerüst von kosmischer Gestalt mit Kugelsessel in der Mitte. Rechts der silberne Halbmond zum Hochheben, Herumtragen oder drauf Wippen (Bühne: Marie Labsch).

Ein kosmisches Gerüst mit Kugelsessel lässt an die Sonne denken.
Ein kosmisches Gerüst mit Kugelsessel lässt an die Sonne denken. | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Zwischen Sonne und Mond also spielt sich das Leben der Reichenauer Klostergemeinschaft unter Leitung des Abtes Berno (Peter Cieslinski) ab, weit entfernt von irdischen Nöten und Bedürfnissen. Jedes Streben und jedes Hoffen gilt ihnen einer himmlischen Wirklichkeit. Und deshalb kommen auch Graf Wolfrad (Harald Schröpfer) und seine Frau (Anne Simmering) vorbei, um ihnen ihren körperlich beeinträchtigten, fürs Irdische scheinbar untauglichen Sohn anzuvertrauen.

Wohlwissend, dass eine authentische Abbildung des „krummen Hermann“ problematisch wirken könnte, besetzt das aus Nix selbst sowie Zenta Haerter und Lorenz Leander Haas bestehende Regieteam die Hauptrolle quer: Sarah Siri Lee König zeigt den Gelehrten ganz in Weiß gekleidet als eher jenseitige, mystische Gestalt.

Der Mond bietet Hermann (Sarah Siri Lee König) eine Sitzgelegenheit. Rechts: der treue Gefährte Berthold (Georg Melich).
Der Mond bietet Hermann (Sarah Siri Lee König) eine Sitzgelegenheit. Rechts: der treue Gefährte Berthold (Georg Melich). | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Ohne Konflikte gibt es kein Theater, und genau das macht den Stoff für die Bühnenadaption so schwierig. Denn nach allem, was heute über sein Schicksal bekannt ist, scheint Hermann auf der Reichenau ein Leben in hohem Ansehen verbracht zu haben.

Nix konstruiert deshalb einen aus historischer Perspektive sehr fragwürdigen Streit um die Gestalt der Erde. Als der Abt verkündet, bei dieser handele es sich um eine ebenso runde Sache wie bei einem Apfel, fallen die Mönche aus allen Wolken: „Rund hat er gesagt? Mein Gott, wenn das der Papst hört!“ Und Hermanns treuer Gefährte Berthold (Georg Melich) fragt mit rührender Naivität: „Bruder Hermann, wenn die Erde rund ist wie ein Apfel, wie sind dann die Sterne am Himmel befestigt?“

Kugelgestalt war kaum umstritten

In Wahrheit war die Kugelgestalt unseres Planeten in den Bildungszentren des Mittelalters kaum umstritten, und das Benediktinerkloster auf der Reichenau galt als Elite-Universität seiner Zeit. Vor Hermann hatte bereits Gerbert von Aurillac sowohl die Kugelform nachgewiesen, als auch deren Dimensionen errechnet und eine Einteilung in Klimazonen vorgenommen – von antiken Denkern wie Eratosthenes ganz zu schweigen.

Hermann der Krumme (Sarah Siri Lee König) im Zentrum des Sonnensystems. Berthold (Georg Melich) hält den vorgeschriebenen Hygieneabstand ...
Hermann der Krumme (Sarah Siri Lee König) im Zentrum des Sonnensystems. Berthold (Georg Melich) hält den vorgeschriebenen Hygieneabstand ein. | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Schlüssiger als der Streit um die Krümmung der Erde mutet Hermanns Konflikt mit der seines eigenen Körpers an. Nix zeigt einen Mann, der zu seiner Innerlichkeit von äußeren Umständen gezwungen wird. Und der deshalb mit diesen Umständen mitunter auch hadert, was wiederum einen Widerstreit mit Gott bedeutet. Dann träumt sich Hermann in eine Wirklichkeit ohne Behinderung: ein Leben, in dem er sich wie so viele andere da draußen an oberflächlicher Schönheit berauschen und eigener Eitelkeit erfreuen kann.

Zwiegespräch mit Hawking

Sein anderes, dem körperlichen Schicksal ergebenes Ich hingegen sucht Befreiung in geistigen Exkursionen. Nix lässt Hermann das Göttliche im kosmischen Wissensdrang finden, in einem Drang, der ihn sogar über Zeit und Raum hinweg ein Zwiegespräch mit dem tausend Jahre später lebenden (und gleichfalls körperlich gelähmten) Astrophysiker Stephen Hawking führen lässt (als Stimme aus dem Off, gesprochen von Odo Jergitsch).

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„Du weißt ähnlich wenig wie ich“, muss der Mönch dabei ernüchtert feststellen. Und als Hawking erklärt, dass er trotz dieses geringen Wissens nicht religiös sei, fragt Hermann: „Wie kannst du dann ein guter Mensch sein?“ Nicht der Glaube, sondern die Vernunft, antwortet Hawking, müsse „Richterin sein über alles, was im Menschen ist“. So zeigt sich im Ereignis der Aufklärung die geradezu undurchdringlich scheinende Mauer zwischen Mittelalter und 20. Jahrhunderts – ein durchaus raffiniert komponierter Dialog.

Feixende Mönche

Als es abseits von solch feinsinnigen Überlegungen um handfeste Politik geht, wird neben Hawking sogar eine zweite Figur der Neuzeit sichtbar: Christoph Nix selbst. Der scheidende Abt des Benediktinerklosters muss schon vor seinem Abtritt erleben, wie die feixenden Mönche sich auf seinen Abgang freuen. Zu viel gewollt habe der Alte immer, und dann die ewigen Streitereien mit der Obrigkeit in Konstanz!

Doch Abt Berno lässt sich nicht lumpen und übt Selbstkritik. Seine Eitelkeit, erkennt er, habe ihn übermütig werden lassen. „Ich wollte herrschen – und ich habe geherrscht!“ Und doch, bei alldem habe er stets nur das Gute gewollt.

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Reicht das, um auch ungeachtet der beglückenden Erfahrung, Theater überhaupt wieder erleben zu dürfen, von einem gelungenen Abend zu sprechen? Es ist bei mancher bereits erwähnten konzeptionellen Schwäche immerhin bemerkenswert, dass für ein „Freilichtspektakel“ auffallend existenzielle Fragen aufgeworfen und kontemplative Momente geschaffen werden.

Musik mit Maskenschutz: das Vokalensemble der Münstermusik ist bei „Hermann der Krumme“ dabei.
Musik mit Maskenschutz: das Vokalensemble der Münstermusik ist bei „Hermann der Krumme“ dabei. | Bild: Ilja Mess / Theater Konstanz

Eine durchaus ergreifende, in jedem Fall klangschöne musikalische Begleitung durch den Kinderchor und das Vokalensemble der Münstermusik Konstanz unter der Leitung von Steffen Schreyer verleiht dem Ganzen eine sakrale Dimension, die nicht nur dem Stoff, sondern auch der Münsterkulisse angemessen ist. Und schließlich gelingt es den Darstellern oft genug, mit einer Nähe im Ausdruck die Distanz zwischen den Körpern fast vergessen zu lassen.

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In der Neuzeit sucht der Mensch sein Seelenheil in Expansion, Stephen Hawking ermuntert uns, ferne Galaxien zu erobern. Für Hermann dagegen liegt das Weltall nicht da draußen, sondern in uns selbst. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg!“, ruft er.

Der Weg nach innen aber, das ist der Weg des Theaters und der Kunst. Hoffen wir, dass wir ihn schon bald wieder öfter beschreiten können.

Weitere Vorstellungen: ab heute täglich außer sonntags (Ausnahme: die letzte Vorstellung am 2. August), jeweils um 20.30 Uhr auf dem Münsterplatz in Konstanz. Weitere Informationen: http://www.theaterkonstanz.de