Sommer 1968. Um Thomas Manns 93. Geburtstag herum. An einem Nachmittag nach der Schule. Ich, 14 Jahre alt, sitze unter einem Apfelbaum am Rande eines Ackers in den Pausen der Feldarbeit und lese „Tonio Kröger“. Bin hin und weg. Da und dort. Es war einst, damals, als noch ganze Bücher auf dem Lehrplan standen.

Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren, zum Schriftsteller geworden in einer Zeit, da das Buch keine ernsthafte Deutungskonkurrenz hatte. Bücher waren einst etwas so Kostbares, dass man sie – wie im Kloster Sankt Gallen – ankettete. Heute warten sie, etwa an der Promenade von Überlingen, und hoffen mit etwas Glück auf solche Passanten, die sich ihrer erbarmen und sie aus der offenen Vitrine mitnehmen.

Ein Buch eignet sich immer noch als Zeitspeicher und -muster. Aber ist doch eher ein Auslaufmodell, zu einer Möglichkeit unter anderen geworden, wenn ich an die vordem universale Bedeutung des Schreibens in Buchform denke. Vom analogen zum digitalen Weltverständnis: Wir wollen aber die Welt immer noch verstehen.

Auch ein Blick in die Kulturseiten bestätigt: Literatur, einst fundamental, ist keine Leitgröße mehr, freilich immer noch im Angebot. Das muss ich mir dazudenken, wenn ich nun den 150. Geburtstag des Großschriftstellers vergegenwärtigen soll.

„Für mich ist er auch ein Heimatschriftsteller“

Als er noch im 19. Jahrhundert sein erstes Buch, „Der kleine Herr Friedemann“, eine Sammlung von Erzählungen, schon im S. Fischer Verlag veröffentlichte, gab es weder Radio noch Film und Fernsehen, weder Autobahnen noch Transatlantikjets, noch Digitalströme. Ich möchte sagen: fast nichts, was für das digitale Leben 2025 von Belang ist. Für mich ist er auch ein Heimatschriftsteller aus Lübeck, der seine erste, sehr norddeutsch-hanseatische Welt vergegenwärtigt und die Heimatlosigkeit als seinen Ort im Leben sieht. Außerdem muss ich mir bei Thomas Mann immer die ganze Welt und ihre Verwerfungen von 1875 bis 1955 dazudenken.

Auch in seinem eigenen Leben ist viel Tragik. „Nie ganz gesund, aber auch nie ganz krank.“ Die eigentlich trostlosen Familiendaten. Und wie es weiterging. Seine zwei Schwestern nahmen sich das Leben. Später auch zwei seiner Söhne.

Thomas Mann mit Zigarre: In der Wertschätzung des Tabaks treffen sich die beiden Schriftsteller.
Thomas Mann mit Zigarre: In der Wertschätzung des Tabaks treffen sich die beiden Schriftsteller. | Bild: unbekannt

Die von weither gekommene Mutter Julia da Silva Bruhns aus Südbrasilien, Paraty (ich war mehrfach dort, sehr schön), aus einer portugiesischstämmigen, noch von Sklaven bewirtschafteten Landbesitzerfamilie. 1851 geboren. Der Vater kam aus Lübeck, der in die Familie da Silva eingeheiratet hatte. Julia wurde nach dem frühen Tod der brasilianischen Mutter in die Stadt ihres Vaters gebracht, nach Lübeck, sprach die ersten Jahre ihres Lebens kein Wort Deutsch, heiratete bald einen späteren Senator, galt als die schönste Frau der Stadt, wenigstens für Thomas Mann.

Schon seine Mutter fühlte sich in der Welt, da, wo sie war, nicht zuhause. Nach dem eher frühen Tod ihres Mannes 1891 zog sie 1893 mit den fünf Kindern nach München und starb nach Jahrzehnten mehrfacher Umzüge in einem Hotelzimmerchen 1923 in Weßling. Ihr finanzieller Spielraum war auch immer weniger geworden. Zuletzt sorgte die Inflation für den Rest.

Der Vater hatte seine drei Söhne für ungeeignet gehalten, die heimatliche Firma in Lübeck zu übernehmen, vielleicht war auch nicht mehr so viel cash flow. Der Niedergang der Familie hatte schon früh begonnen. Und das Ganze war insgesamt vielleicht weniger glanzvoll, als vom Schriftsteller beschrieben.

Thomas Manns Dazugehörigkeitsverlangen (das Wort habe ich einst für Pasolini gefunden) war groß. Aber schon früh erfuhr Thomas Mann, dass er nicht so war wie die anderen. Das war die Geburtsstunde des Schriftstellers. Dennoch gab er sich am Ende als eine Art Glückspilz aus. Bei dieser Welt und ihrer Geschichte! Zwei Weltkriege und die Folgen liegen auch dazwischen. Ist das Ironie?

Die Verstörung des Lesers

Ich kannte Thomas Mann fast schon ein Leben lang. Auch von der Uni Freiburg. In einem Seminar zum „Tod in Venedig“ bestritt der werkimmanent lesende Professor mir gegenüber, dass die Erzählung etwas mit dem Leben ihres Autors zu tun habe. Doch als ich viel später auf die Tagebuchnotiz vom 6.8.1945 stieß, verschlug es mir die Sprache: Die Passage vom 6. bis zum 10. August 1945 (Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki) beginnt mit dem „Einkauf farbiger Schuhe und weißer Hemden / Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen die Kräfte des gesprengten Atoms (Uran) wirksam“. Und endet mit „K. bedrückt durch den Weggang des neuen relativ brauchbaren N...-Mädchens schon morgen“ (Mann bedient sich hier eines rassistisch konnotierten Begriffs, die Red.). Sind das die Notizen eines Autisten? Oder von einem, der zum Repräsentanten und nicht zum Märtyrer geboren ist, wie er von sich selbst in etwa sagte?

Thomas Mann im Bademantel am Strand: So manche seiner Bemerkungen vermögen noch heute zu verstören.
Thomas Mann im Bademantel am Strand: So manche seiner Bemerkungen vermögen noch heute zu verstören. | Bild: unbekannt

Verstörend bleibt für mich manche Bemerkung, so zur Zerstörung Münchens, einer Stadt, in der er die längste Zeit seines Lebens verbracht hat. Mann meint, „der alberne Platz“ habe es „geschichtlich verdient“. Schon in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ wird der Krieg als „Veredlung und Verfeinerung des Menschen angesichts des Todes“ gedeutet, auf fast 600 Seiten, mitten im (Ersten Welt-)Krieg. Heute sagt man dafür „undemokratisch“ und „Verschwörungstheoretiker“. Politische Verirrungen bis über den Ersten Weltkrieg hinaus, die auch Bruder Heinrich kränkten: Da war der Mann Mitte 40!

Der Autor

Bis in die ersten Nazijahre hinein war Thomas Mann mit Reaktionen noch zögerlich gewesen. Aber dann! Etwa der Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, mit dem Thomas Mann, mittlerweile 61, auf die Aberkennung des Ehrendoktorats reagiert. Und die Radioansprachen an die Deutschen: Das ehrt ihn, und die Deutschen können beschämt sein: „Wisst ihr Deutsche das?“ So wieder in der FAZ vom 5.5.2025. Die Geschwister Scholl wussten das, auch dank Thomas Mann, der in aller Deutlichkeit auch die Gräuel der Deutschen in den KZ anklagte.

Er war gehasst – das ehrt ihn

Er war eine der meistgehassten Personen seiner Zeit; und zwar nicht nur von den Nazis. Das ehrt ihn. Doch selbst die Kollegen im kalifornischen Exil, vor allem Bertolt Brecht und Alfred Döblin, mochten ihn nicht, vielleicht war es auch Neid. Gerade Brecht ärgerte sich über Thomas Manns vornehm-repräsentativen Lebensauftritt immer wieder. Nicht ohne Grund schrieb Brecht unter eines seiner schönsten, aber auch pornographischsten Gedichte „Über die Verführung von Engeln“ den Namen Thomas Mann: „heb ihm den Rock und fick ihn“, 1948 geschrieben in Zürich. Da wird BB aber gelacht haben! Das war andererseits auch sehr großzügig von ihm, bei seinem berüchtigten Geiz.

Die Gruppe 47, welche das Gesicht der zweiten Jahrhunderthälfte nach dem Krieg bestimmte, ließ ihn demonstrativ links liegen – wie andere Einzelgänger auch, ob nun emigriert oder nicht. Dies vergegenwärtigt von Anfang an eine Spätzeit, als wollte er noch einmal die Welt zusammenfassen, bis zuletzt unerschütterlich wie Horaz mit seinem „Impavidum ferient ruinae“ (Den Unerschütterlichen werden die Ruinen tragen)?

„Du holde Kunst!“ Transzendenz fällt aus. Innerweltliche Reduktion auf die Vergänglichkeit des Schönen. Verankerung in der erotischen Erscheinung: Und doch ist Thomas Mann kein Epigone. Aber ein Autor der Moderne ist er, so gesehen, auch nicht. Gelesen hat er die seinen Stil mitbildenden Norweger und Dänen, ebenso Tolstoi, Dostojewski und Turgenjew; freilich auch Platen, Fontane, Storm und Goethe.

Selbst bei Goethe wird am Ende von „Faust II“ noch gebaut. So etwas fehlt bei Thomas Mann, dessen früher durchgehaltener Hauptgedanke ist, dass das Schöne gegen den Tod keinen Bestand hat. Ich lese bei Mann ein Zukunftsdefizit. Das mag heroisch sein, wird damit aber doch ein Fall für die Ästhetik. Das ist zweifellos schön, wird aber einen Menschen, der immer noch ein Verlangen nach dem ganz Anderen hat, nicht über das Nichts hinwegtrösten können. Es ist auch viel Angelesenes dabei, das sich nicht in einen Gesamtentwurf fügt. Etwa im „Zauberberg“, das philosophische Geplänkel von Naphta und Settembrini, die 28 Fischsaucen von Frau Stöhr.

Ausgabe des Romans „Der Zauberberg“ bei S. Fischer: Braucht es die 28 Fischsaucen von Frau Stöhr?
Ausgabe des Romans „Der Zauberberg“ bei S. Fischer: Braucht es die 28 Fischsaucen von Frau Stöhr?

Das ist mir aber zu wenig, wenn es um die Welt oder die Wurst geht. Ist das jene Ironie, die ich nicht verstehe? Mein vermisster Freund Martin Walser, dem Thomas Mann vielleicht kein Herzensanliegen war, hat sich mit dessen Ironie deutlich befasst.

Mann war auch ein großer Raucher, was mich zu sehen freut. Auf so vielen Fotos sehe ich ihn mit einer Zigarette oder Zigarre dastehen oder dasitzen. Noch etwas, das mich mit ihm verbindet. Von diesem Zigarren-Glück können auch nur jene wissen, die es erfahren haben. Da kam er der Trans-
zendenz, die ich meine, vielleicht am nächsten. Auf seine Art.

Erbarmen mit Thomas Mann

Das alles schreibe ich mit großem Respekt ohne jeden kritischen Beiklang. Und auch mit der Bewunderung, die ein Leser haben kann, der in einen Text hineingeraten ist, also in das, was ein Mensch mit etwas Schriftsteller-Glück von sich offenbaren kann. Thomas Mann ist ein Kairós meines frühen Lebens, den ich nicht widerrufen kann noch möchte.

Er ist mir in seinen Büchern begegnet, also mit dem, was er geschrieben hat, und nicht so sehr mit dem, was ich dann über ihn gelesen habe. Seinen letzten, nur als Teil I erschienenen Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ liebe ich sehr. Ich weiß noch, dass ich damals glaubte, von Werken wie „Buddenbrooks“ und dem „Zauberberg“, beeindruckt sein zu müssen, war es aber durchaus – ein Lieblingswort Thomas Manns – nicht.

Das glaube ich heute, mit einem Zeitabstand von 55 Jahren, sagen zu dürfen. Ist das die Bankrotterklärung eines lebenslänglichen Lesers? Das liegt wohl weniger an Thomas Mann als an mir. Aber Tonio Kröger werde ich nie vergessen. Und jenen Apfelbaum, unter dem ich diese Novelle, mein erstes Buch von Thomas Mann gelesen habe, auch nicht.