Das Abitur lässt sich heute auch ohne „Habe nun ach“ bestehen. Man darf sich darüber wundern. Denn rücksichtsloses Gewinnstreben, toxische Männlichkeit, sexuelle Manipulation: Wo in der Literaturgeschichte sollten wir für diese großen Themen unserer Zeit bessere Beispiele finden als Goethes „Faust“? Wem kommt beim Anblick von Trump und Musk nicht der Teufelspakt in den Sinn? Und wer könnte Disruption besser erklären als Mephisto? „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ Anders als Musk und Argentiniens Präsident Javier Milei kannte er nur noch keine Kettensäge.

Das Theater Konstanz bringt das Stück nun auf die Bühne, wenn auch stark überschrieben. Als „Der Tragödie nächster Fail“, richtig, davon handelt es ja auch: vom ständigen Scheitern an den nur vermeintlich unendlichen Möglichkeiten, die uns eine liberale Gesellschaft zu bieten vorgibt.

Heinrich (Julius Engelbach) hat „Führerschein, bald Abi gar und zählt schon um die 18 Jahr‘“. Ein ganz gewöhnlicher südbadischer Oberstufenschüler also, nur dass ihm zuteil wird, was anderen abgeht: Er darf sein Abitur noch über „Faust“ schreiben. In seinem Kinderzimmer mit 80er-Jahre-Tapete (Bühne: Sonja Hoyler) lässt er seine TikTok-Gemeinde am Lernfortschritt teilhaben, auch wenn seiner Mutter (Sarah Siri Lee König) es gar nicht passt, wenn er wieder „schtriemt“ statt zu lernen.

Ein Klassiker verblasst

Dass der Typ im Buch auch Heinrich heißt, findet er voll „Lol“, Philosophie, Juristerei und Medizin hat er „durchaus gegrindet mit heißem Bemühn“, und die zwei Seelen ruhen nicht etwa ach in seiner Brust, sondern in der Einkaufstüte vom Bäcker nebenan. Wer der Jugendsprache nicht mächtig ist, dem hilft ein Glossar im Programmheft weiter.

Erschöpft vom Büffeln und Streamen kuschelt Heinrich sich in seinen Stoffpudel, da macht es auch schon Puff und Paff: Auf einmal steht diese schräge Gestalt vor ihm, Patrick O. Beck als Dragqueen mit Pumps, Kleid und Dutt, vor allem aber verdächtig mephistophelisch geschminkten Augenbrauen. Als „Lady McFisto“ stellt sie sich vor. „Heinrich“, erwidert der Junge und fügt eilig hinzu: „Er/ihn! Magst du mir auch deine Pronomen sagen?“ Doch den Gefallen tut die Lady ihm nicht, gilt sie doch als „Geist, der stets verneint“.

Das also ist der Pudels Kern! Lady McFisto (Patrick O. Beck, oben) ist frisch dem Kuscheltier von Heinrich (Julius Engelbach) entschlüpft.
Das also ist der Pudels Kern! Lady McFisto (Patrick O. Beck, oben) ist frisch dem Kuscheltier von Heinrich (Julius Engelbach) entschlüpft. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

McFisto ist gekommen, den jungen Heinrich von der öden Lernerei zu erlösen, ihn in eine viel bessere Schule zu entführen, damit er die wirklich wichtigen Dinge im Leben lernt. Ein kurzer Flug mit dem Hexenbesen, schon landet unser Abiturient in einem magischen Internat, das an Harry Potters Hogwarts denken lässt. Hier lernt er neue Freunde kennen, etwa die ehemalige Hörspielhexe Bibi (Sarah Siri Lee König) oder die Unehrlich-Brothers, zwei gescheiterte Zauberkünstler namens Joy (Jonas Pätzold) und Manfred (Mark Harvey Mühlemann).

Eine Hexenküche als Optimierungslabor

Erste Lektion: Hexenküche. Nein, das ist nicht die Mensa, wie Heinrich vermutete. Vielmehr gilt es hier, das schüchterne Kind in einen coolen, souveränen Macker umzuformen. Mit Botox-Einsatz, modischen Schuhen und flotten Sprüchen werde er bestimmt „bald populär“, versprechen ihm die Klassenkameraden. Doch so recht will daraus nichts werden, als Spross der badischen Provinz ist man halt ein hoffnungsloser Fall.

Lady McFisto (Patrick O. Beck), Bibi (Sarah Siri Lee König), Manfred (Mark Harvey Mühlemann), Heinrich (Julius Engelbach) und Joy (Jonas ...
Lady McFisto (Patrick O. Beck), Bibi (Sarah Siri Lee König), Manfred (Mark Harvey Mühlemann), Heinrich (Julius Engelbach) und Joy (Jonas Pätzold, v.l.n.r.) in „Faust. Der Tragödie nächster Fail“. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Zweite Lektion: Straße. Der Ort, um gute Anmachsprüche zu lernen. Manfred gibt das Gretchen, Heinrich versucht‘s mit: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?“ Aber vergebens, mehr als ein schnippisches „Bin weder Fräulein weder schön“ bekommt er nicht zu hören. Kein Wunder, ruft Bibi: Er hat ja auch gar nicht nach dem Pronomen gefragt! Und überhaupt: Auf so einer dunklen Straße, da sei einem als „weiblich gelesene Person“ sowieso mulmig zumute. Will man sich dann auch noch von fremden Männern anquatschen lassen?

Wie Juli Mahid Carly, Autor des Stücks und Regisseur des Abends, dieses faustische Scheitern an den teuflischen Versprechungen des Kapitalismus zeichnet: Das ist in seinem Wortwitz und seiner grellen Bildhaftigkeit leidlich unterhaltsam. Vor allem darstellerisch überzeugt der Abend mit Julius Engelbach als an sich selbst zweifelnder, verführbarer Abiturient, Patrick O. Beck mit lustvoll diabolischer Aura und Sarah Siri Lee König als widerborstiger Bibi-Blocksberg-Verschnitt.

Sogar den Lektüreschlüssel gibt es in Lady McFistos (Patrick O. Beck, rechts) magischer Schule. Heinrich greift begierig danach.
Sogar den Lektüreschlüssel gibt es in Lady McFistos (Patrick O. Beck, rechts) magischer Schule. Heinrich greift begierig danach. | Bild: Ilja Meß / Theater Konstanz

Wer freilich mehr erwartet als einen launigen Ritt durch die Abgründe jugendlicher Identitätsfindung, dürfte kaum glücklich werden. Zu hastig eilt dieser Abend von Pointe zu Pointe, als dass aus einem der zahllosen angerissenen Themenfelder substanzielle Erkenntnis hervorgehen könnte. Am Ende erweist sich die Dragqueen als Hexenfigur der Konstanzer Stadtgeschichte, Heinrichs ganzes Abenteuer aber – wir haben es geahnt – nur als flüchtiger Schülertraum.

„In die Traum- und Zaubersphäre sind wir, scheint es, eingegangen“, heißt es im Original-“Faust“. Der junge Heinrich dagegen muss aus ihr jetzt wieder herausfinden: Nächste Woche ist Abiturprüfung.

Kommende Vorstellungen: am 25., 29. und 31. März. Weitere Informationen: www.theaterkonstanz.de