Auch nach mehr als einem Jahr noch wirkt es, als habe der Krieg die Kunst auf dem falschen Fuß erwischt. Mit vielem hatten Künstler, Regisseure und Intendanten gerechnet, etwa mit Debatten um Identität, Gerechtigkeit, Klimawandel. Nicht aber mit der Rückkehr von brutaler Gewalt und atomarer Drohungen. Kunstwerke, die sich um die Frage nach Krieg und Frieden drehen, sind trotzdem noch zu finden – auch in unserer Region.

Ein fünf mal zwölf Meter großes Wandbild von Otto Dix (es ist das einzige erhaltene) zum Beispiel dominiert den Ratssaal des Singener Rathauses. Sein Titel „Krieg und Frieden“ nimmt Bezug auf Leo Tolstois berühmtes Epos. Was sagt es über unsere Zeit?

„Krieg und Frieden“ in Gesamtansicht: Das Kreuz trennt den Krieg vom Frieden.
„Krieg und Frieden“ in Gesamtansicht: Das Kreuz trennt den Krieg vom Frieden. | Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Ortstermin mit Christoph Bauer, dem Leiter des städtischen Kunstmuseums. „Gehen wir doch nach unten“, sagt er dem Gast und bezeichnet damit schon den Kern der Geschichte. Denn zu einem Ratssaal in den Keller gehen zu müssen, ist ungewöhnlich. „Der Architekt wollte das Volk als Souverän von einer Empore auf seine Vertreter herabblicken lassen“, erzählt Bauer. „Und eigentlich sollte sich diese Empore über alle vier Wände erstrecken, doch dann wollte der damalige Oberbürgermeister Theopont Diez von der CDU ein Wandbild haben. Und so kam es, dass eigens diese große Fläche frei blieb.“

Das Thema wurde vorgegeben, die Gestaltung stand dem Künstler frei. 1960 war das Werk vollendet und sorgte für gehörigen Wirbel. Die Steine des Anstoßes im Einzelnen:

Das Kreuz (1)

Bild 2: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Theopont Diez und Otto Dix war ein starker Bezug zur christlichen Symbolik gemeinsam – wenn auch aus verschiedenen Gründen. Diez sah als gläubiger Katholik in christlich-humanistischen Werten einen Hebel, um das faschistische Gedankengut aus den Köpfen der Menschen herauszulösen. Dix dagegen stand der Kirche fern, nutzte aber deren Bildsprache für seine Kunst: schließlich waren die meisten ihrer Figuren wie auch deren Bedeutung dem Publikum allgemein bekannt. Im mittig platzierten Kreuz, das den Krieg vom Frieden trennt, finden die Vorstellungswelten von Diez und Dix zusammen.

Doch was ist das für ein merkwürdiges Gestell, und wer genau hängt eigentlich daran? Statt eines massiven Gerüsts sehen wir ein urwüchsiges Astkreuz im Stil des 16. Jahrhunderts. Und statt des klassischen Jesus, der in seinem Todeskampf immer auch widerständig, heroisch anmutet, stirbt hier eine kahlköpfige, graue Gestalt ohne jede Hoffnung.

Die Opfer (2)

Bild 3: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Auf der linken Seite zeigt Dix, was dem Gekreuzigten zuvor widerfahren ist. Dabei unterscheidet sich die Geißelung wesentlich von den Passionsdarstellungen in anderen christlichen Werken. Zum einen fehlt auch dieser Figur jedes Anzeichen von Widerstandskraft: alles deutet auf Tod, nichts auf Wiederauferstehung. Zum anderen aber weist manche Spur ins Leid der Juden.

Das gilt fürs Anketten und Kahlrasieren, aber auch für den in Konzentrationslagern gebräuchlichen Ochsenziemer, mit dem der SS-Mann auf den Rücken des Opfers einschlägt. Und ob rechts davon ängstliche Einwohner im Luftschutzkeller ausharren oder es sich vielmehr um Juden im Feuerofen handelt, bleibt offen.

Bemerkenswert: Im Jahr 1960 lagen die Frankfurter Auschwitzprozesse in weiter Ferne, der Begriff Holocaust war noch lange nicht erfunden. Und doch bringt ein Künstler diese Andeutungen bereits zu dieser Zeit mitten ins Rathaus einer deutschen Kleinstadt. „Die meisten Leute hier in Singen wollten etwa die Arbeitslager in der Region am liebsten totschweigen“, sagt Bauer. „Da können Sie sich vorstellen, wie diese Motive hier ankamen!“

Die Täter (3)

Bild 4: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Den einen kennen wir doch? Ganz gewiss! Allein Adolf Hitler unverkennbar auf einem Wandbild zu zeigen, war eine Provokation. Doch das eigentlich Ungeheuerliche liegt nicht im Seitenscheitel und Zweifingerbart. Sondern im geradezu absurd alltäglichen Streifenkittel. Ein Hitler, so lässt sich die Szene lesen, kann auch im gemeinen Mann von heute stecken, Faschismus gibt sich nicht immer in Uniform und Schirmmütze zu erkennen. „Das war eine Absage an die beliebte Ausrede des Hitlerismus. Die Legende lautete damals: Dafür, dass da in Berlin ein Hitler saß, konnten wir Deutschen ja nichts!“

Der Panzer (4)

Bild 5: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Er feuert in alle Richtungen, und dass er das kann, verdankt sich einem Rückgriff auf die 1960 bereits als überholt geltende Maltechnik des einst von Pablo Picasso und Georges Braque begründeten Kubismus. Dix zeigt die Maschine damit aus allen Perspektiven und vermittelt damit den Eindruck einer totalen, raumgreifenden Zerstörungskraft.

Die Wiederauferstehung (5)

Bild 6: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

So irdisch und desillusioniert wie hier ist Christus noch nirgends auferstanden. Sein rechter Fuß setzt schwer am Boden auf, da schwebt nichts, ein Mensch statt eines Heiligen. Und zwar einer, der durchs Feuer gegangen ist, ein paar Flammen flackern noch aus seiner Gruft.

Mit leerem Blick starrt er uns an, die Linke erhoben zu einem Gruß, der mehr an Segnung erinnert als an Sieg. Und das, sagt Bauer, sei schon wieder so eine Provokation gewesen. „Zum Segnen ist nämlich die rechte Hand da. Links aber saßen die Abgeordneten der SPD, die standen ihm offenbar näher!“ Dass der CDU-Mann Diez dem Künstler auch dieses Detail durchgehen ließ, spricht für ihn.

Die Sonne, der Himmel, die Bäume (6)

Bild 7: In Singen hängt das einzige erhaltene Wandbild von Otto Dix: Was sagt es über unsere Zeit?
Bild: Kuhnle + Knödler GbR, © Kunstmuseum Singen

Ein neuer Tag bricht an, die Friedenstaube flattert (auch sie wohl von Picasso inspiriert), alles scheint wieder gut auf der rechten Seite. Und doch will sich Fröhlichkeit nicht recht einstellen. Das liegt neben dem so irritierend nüchternen Akt der Wiederauferstehung auch an der seltsam ockerfarbenen Tönung des Himmels.

Die düstere Grundstimmung ist geblieben: Die Strahlen der Sonne ähneln den Flammen der Kanonen, und jeder Baum erinnert mit Stamm und Ästen verdächtig an den Marterpfahl der Kreuzigung. Zwar gibt die von links nach rechts diagonal aufsteigende Landschaftslinie einen Fortschrittsgedanken zu erkennen. Doch diesem Fortschritt ist ein hoher Preis eingeschrieben.

„Ein solches Wandbild war damals sehr mutig“, sagt Bauer: „Möglich war es, weil sich erstens ein Oberbürgermeister dafür eingesetzt hat und weil er zweitens genau das überhaupt konnte. Heute müsste das Konzept von tausend Gremien abgesegnet werden, da bliebe am Ende nichts mehr übrig.“

Und was erzählt dieses Werk nun über unsere heutige Zeit? Sein illusionsloses, fast resignatives Zurkenntnisnehmen der neuen, demokratischen Nachkriegsgesellschaft lässt eine Art Zirkelschluss vermuten: Die bei Dix vom Leid befreiten Menschen scheinen zu ahnen, dass der gewonnene Frieden wohl wieder nur einen Übergang markiert zur nächsten Phase des Leids. Eine längere Friedensepoche als die zurückliegende hat Europa in der Geschichte nämlich noch nicht zuwege gebracht.

Otto Dix‘ Wiederauferstandener mahnt die Ratsmitglieder heute zu Demut und Wachsamkeit. Der schönen neuen Welt wohnt die alte noch inne. Oder um mit Brecht zu sprechen: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.