Wenigstens auf den Muttertag kann man sich verlassen. Man weiß, was gefeiert wird. Für Pfingsten und den 1. August braucht es Nachhilfeunterricht. Bei Müttern ist alles klar. Jeder hat sie erlebt. Der Muttertag passt auch gut zu Corona. Man feiert am besten daheim. Frühstück im Bett für die Mutter, ein Blumenstrauß, ein Sonntagsmahl, dann schwinden den Kindern die Kräfte.

Kein Gebärwunsch

Jungen zumal gehen an den Muttertag unbefangen heran. Sie müssen auch niemals Mutter werden. Von Männern wird kein Gebärwunsch erwartet. Und nur im Ausnahmefall finden sie Erfüllung in der Hausarbeit. Mädchen sind skeptischer. Was wird am Muttertag gefeiert? Dass Mutter brav ihren Pflichten nachkommt? Will ich wie meine Mutter werden?

„Wie meine Mutter“ heißt ein Buch von Nancy Friday, inzwischen in der 21. Auflage, anschaulich, packend, verständlich. Jeder weiß, die Mutter prägt Buben wie Mädchen. Sie ist das erste Liebesobjekt. Sie beeinflusst alle späteren Beziehungen. Aber es gibt einen Geschlechterunterschied. Für Mädchen sind Mütter Rollenvorbilder, für Jungen nicht.

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Ein Sohn, schon weil er ein anderes Geschlecht hat, ist prinzipiell freier. Für Mütter sind Söhne, wie Männer, letztlich unbekannte Wesen. Jungs dürfen sich deshalb mehr erlauben, haben auch als Erwachsene mehr Unternehmungsgeist. Bei Mädchen indes ist die Mutter Expertin, weil sie selber ein Mädchen war. Sie meint, alles über die Tochter zu wissen. Sie nörgelt, weist zurecht, will alles besser für die Tochter wissen. Die Mutter feilt ständig am kleinen Abbild ihrer selbst in der Tochter. Das heißt schlimmstenfalls: „Sie rollt wie eine Dampfwalze über die Individualität ihrer Tochter hinweg.“

Mädchen müssen sich abgrenzen

Töchter, die das Leben ihrer Mütter imitieren, geben sich ein Stück weit auf. Im Normalfall jedoch sucht die Tochter ihren eigenen Weg. Für Jungs ist es selbstverständlich, nicht zu werden wie die Mutter. Für Mädchen nicht. Sie müssen sich von der Mutter abgrenzen. Das schmerzt beide Seiten.

Die Mutter fühlt sich zurückgewiesen. Habt sie es nicht immer gut mit ihr gemeint? Auch die Tochter verletzt sich bei der Ablösung. Sie kann nur „anders“ werden, indem sie das Idealbild, das sie von ihrer Mutter hat, zerstört. Weil die Tochter wie die Mutter eine Frau ist, muss sie sich bei der Abgrenzung selber angreifen.

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Auch Söhnen tut es weh, wenn das Idealbild der Mutter einstürzt. Aber sie sind durch ihr Geschlecht von vornherein anders als die Mutter. Töchter und Mütter hingegen sind befangen im Psychodrama von Projektion und Gegenprojektion, manchmal lebenslang. Kein zweites Paar kennt sich so gut wie Tochter und Mutter. Keines kann sich so tief verstehen – und keines sich gegenseitig so stark verletzen.

Legendär sind die Wutausbrüche pubertierender Töchter. Und ungewohnt die schroffen Reaktionen der Mutter, sie ist traditionell für Harmonie zuständig. Väter und Söhne stehen oft ratlos daneben, neben dem Drama einer Abnabelung, das sie längst hinter sich haben.

Die Mutter als Frau sehen

An Muttertag soll mit Nancy Friday daran erinnert werden: Mütter sind auch nur Menschen – und Frauen. Jeder Mensch, der einer neuen Person begegnet, achtet zuerst auf deren Geschlechtszugehörigkeit. Nur der Mutter soll es egal sein, ob ihr Kind einen ein Junge oder ein Mädchen ist. Jeder Mensch mag den einen etwas mehr und den anderen etwas weniger. Nur die Mutter soll ihre Liebe auf alle gleich verteilen.

Kinder sagen mitunter, dass sie ihre Mutter hassen, Mütter sagen das von ihren Kindern nie. Menschen sind ständig in Konkurrenz um Liebe und Anerkennung. Nur Mütter dürfen sich nicht offen eingestehen, dass sie ihre heranwachsende Tochter als Rivalin erleben. Dabei geht es nicht nur um Männer, sondern um Jugendlichkeit, Schönheit, Weiblichkeit. Töchter fühlen diese unterschwellige Rivalität sehr wohl. Eine Mutter, die nie darüber spricht, weckt automatisch Misstrauen in der Tochter. Was verschweigt mir die Mutter? Gibt es da ein schlimmes Geheimnis?

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Frauen sind sexuelle Wesen, nur als Mütter und Töchter dürfen sie es nicht sein. Moderne Mütter retten sich in eine neue Rolle: Sie geben aus, Freundin der Tochter zu sein und kleiden sich wie sie – „wir Mädels“. Töchter mögen das nicht, sie ahnen die versteckte Rivalität. Manche schämen sich für die „Verlogenheit“ der Mutter – wie sich die Mutter vielleicht für das Triebleben ihrer Tochter schämt. Nancy Friday rät Müttern, die Konkurrenz offen zum Ausdruck zu bringen – mit einem Lächeln im Augenblick der Rivalität, mit einem Kuss für die Tochter. Zugeben: Ja, wir sind Rivalinnen, weil wir Frauen sind. Aber warum sollte das schlimm sein?

Schlimm ist nur die überidealisierte Mutterrolle. Sie nimmt der Frau ihre Sexualität. Ihre Erotik zu verlieren, ist sowieso eine Furcht von Frauen, die Mutter werden. Töchter, wenn sie erwachsen sind, sollten die geheimen Ängste ihrer Mutter achten. Am schönsten ist es, gemeinsam darüber reden zu können. Manchmal ist es dafür zu spät.

Eine Stufe höher

Deine Mutter öffnet dir die Augen fürs Leben, und vielleicht schließt du die Augen der Mutter, wenn ihr Leben vorbei ist. Dazwischen wirst du erwachsen. Du ziehst in eine andere Stadt, studierst und heiratest eventuell und ergreifst einen Beruf. Du steigst eine soziale Stufe höher. Die Mutter hat dich gefördert, obwohl sie spürte: Ihr werdet euch fremder. Von all dem handelt ein wunderbares Buch der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux. Es heißt: „Eine Frau.“ Diese Frau ist ihre tote Mutter. Die Tochter schreibt: „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen.“

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Der Bericht beginnt mit dem Tod der Mutter im Altersheim. Die Inventarisierung der wenigen Habseligkeiten, die Routine beim Begräbnis. In der Folge rekonstruiert Ernaux das Leben ihrer Mutter – als Frau. Geboren 1906 in der Normandie; Abbruch der Schule, um in der Fabrik zu arbeiten; im Krieg führt sie einen Lebensmittelladen. Im Alter versucht sie mehrmals, bei der Tochter zu wohnen, fühlt sich aber fremd in deren großbürgerlichem Haushalt.

Die Mutter bekommt Alzheimer, muss ins Heim. Sie schämt sich für nichts mehr. Ihr Nachthemd rutscht hoch, die Tochter sieht ihre Scheide. Ernaux schreibt: „Ich weinte, weil das meine Mutter war.“ Sie lässt sich gern füttern und küssen. Sie lächelt bis zuletzt. Dann ist sie tot. „Sie wird nie mehr irgendwo auf der Welt sein.“

Bei Annie Ernaux ergreift die Mischung aus Präzision und Poesie. Bei Nancy Friday besticht die psychologische Tiefe. Beide schreiben für alle, die sich verstehen wollen, nicht nur am Muttertag.

Annie Ernaux: „Eine Frau“. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2019. 88 Seiten, 18 Euro.

Nancy Friday: „Wie meine Mutter. My Mother my self“. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1982. 450 Seiten, 17 Euro.