In einer weitgehend tabubefreiten Öffentlichkeit, die in Talkshows ihre intimsten Angelegenheiten auszudiskutieren und in Unterhaltungsformaten selbst die letzte Schamgrenze noch lustvoll zu überwinden versteht: Wie kann es da geschehen, dass Opfer sexueller Gewalttaten jahrzehntelang schweigen?

Es ist dieser schwer begreifliche Widerspruch, der bei den Missbrauchsvorwürfen gegen prominente Künstler wie Placido Domingo oder Dieter Wedel vor allem männliche Beobachter an der Redlichkeit der Anklage zweifeln lässt. Ein Widerspruch, der den Verdacht nährt, es gehe hier so manches Mal mehr um Neid und Rachlust als um tatsächlich erfahrenes Leid.

Das könnte Sie auch interessieren

Die junge Autorin Inès Bayard (Jahrgang 1992) hat bereits vor zwei Jahren die Gründe für das Schweigen erforscht. Ihr Romandebüt „Le Malheur du bas“ kam prompt auf die Longlist für den renommierten Prix Goncourt. Jetzt ist das Buch auf Deutsch erhältlich: „Scham“ lautet der Titel dieser Übersetzung.

Marie, aufgewachsen in behüteten Verhältnissen, hat ihr Leben auf die Erfolgsspur gesetzt. Der Ehemann Laurent ist als Anwalt erfolgreich und überdies ihr treu ergeben, der Job als Angestellte einer Bank scheint solide und finanziell einträglich. Fehlt nur noch ein Kind, doch diesem Wunsch lässt sich nachkommen: Die Pille hat Marie gerade erst abgesetzt. Da kommt es zur Katastrophe.

Brutale Vergewaltigung

Es geschieht nach Feierabend auf einer kurzen Fahrt im Mercedes des Bankdirektors. Nicht das, was man als Belästigung bezeichnen würde oder als Übergriffigkeit, ein Delikt, das in einer späteren Gerichtsverhandlung noch Interpretationsspielraum ließe. Nein: eine brutale Vergewaltigung. Ein Akt von wenigen Minuten.

Das könnte Sie auch interessieren

So grausam er ist, so unwirklich mutet das Geschehene an, als die Zentralverriegelung wieder geöffnet, das Opfer auf die Straße gestoßen wird. Begleitet von den Worten: „Wenn du darüber mit jemandem sprichst, bist du, dein Mann und deine Karriere erledigt. Es wird dir sowieso niemand glauben.“ Die Frage ist jetzt, warum Marie dieser Warnung so bereitwillig folgt.

Inès Bayard: „Scham“, übers. v. Theresa Benkert, Hanser Verlag: München 2020; 224 Seiten, 22 Euro
Inès Bayard: „Scham“, übers. v. Theresa Benkert, Hanser Verlag: München 2020; 224 Seiten, 22 Euro | Bild: wiki

Der erste Impuls: Laurent würde sie fortan mit anderen Augen betrachten. Sie will eine Frau sein, kein Opfer, weiter am gemeinsamen Glück bauen, an einer gemeinsamen Zukunft auf Augenhöhe. Vielleicht ließe sich das Ungeheuerliche am besten bewältigen, indem man ihm keinen Raum gibt, es einfach ausblendet: diese wenigen Minuten, die sich so unversehens und ohne jedes eigene Verschulden ins so perfekt geplante Leben gedrängt haben.

Langes Schweigen

Je länger ihr das gelingt, desto aussichtloser scheint es, das Schweigen zu brechen. Der erste eheliche Sex danach: Wie sollte sie Laurent erklären, dass sie sich darauf überhaupt einlassen konnte? Der Smalltalk mit Freunden: Wer würde ihr dieses Vorspielen einer Normalität verzeihen?

Das Leben wird zu einem Theater. Ja, mehr noch, es ist schon immer ein solches gewesen. Nur, dass es erst einer Katastrophe bedarf, um das zu erkennen.

Das könnte Sie auch interessieren

Als Marie schwanger wird, verkehrt sich der einst sehnlich gehegte Wunsch in sein Gegenteil: Das Kind wird sie ewig an seinen mutmaßlich wahren Erzeuger erinnern, eine bleibende Vergegenwärtigung ihrer Schande. Doch es gilt, den Schein zu wahren, den stolzen Ehemann im Glauben seiner Vaterschaft zu bestätigen, Eltern und Freunden ein vermeintliches Familienglück vorzuspielen. Sie hat als Frau keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit, so sieht sie das: nicht mit diesem weiblichen Körper, der sich krümmt, blutet, verändert, sein ganzes Leben lang penetriert, geschwängert, geöffnet, ausgenommen, wieder geschlossen wird.

Heimliche Vaterschaftstests

Es zeigt sich, dass die vermeintlich so offene Gesellschaft in Wahrheit eine Heimlichtuerei betreibt, die jeder klassischen Tragödie zur Ehre gereicht. Wo Schiller in seinen Dramen Briefe unter der Hand weiterleiten, abfangen und ablauschen lässt, suchen Bayards Protagonisten die Wahrheit in Smartphones und Laptops. Heimliche Vaterschaftstests und verdeckte Ermittlungen ersetzen das vertrauensvolle Gespräch. Mag es auch in der medial inszenierten Wirklichkeit – in der Laurent als Strafverteidiger seine eigene Rolle spielt –, Vergewaltigungen, Demütigungen und familiäre Katastrophen geben: Zu Hause darf die Idylle um nichts in der Welt zu wackeln beginnen. The show must go on.

Die Autorin lässt ihre Hauptfigur zur Täterin werden, die sich in ihrer ausweglosen Lage nur noch mit einem Anschlag auf Mann und Kind zu helfen weiß. Überzogen? Vielleicht. In der Realität dürfte stilles Erdulden häufiger anzutreffen sein. Doch extreme Szenarien zu entwickeln, ist das Vorrecht der Literatur, und das vorliegende Beispiel wirft ein erhellendes Licht auf die fatale Wechselwirkung von traumatischen Erfahrungen und Täterhandlungen.

Das könnte Sie auch interessieren

Inès Bayards feinnervige Erkundung eines Opferschicksals entlarvt die verdeckten Tabuzonen unseres Alltags und zeigt auf, wie leicht sich eine vordergründig gepflegte Diskursbereitschaft in ihr Gegenteil verkehren kann. Nicht zuletzt verändert sie den Blick auf Menschen, die sich der Logik einer solch liberal gebenden Öffentlichkeit entziehen.

Es versteht sich von selbst, dass die prominenten Verdachtsfälle in der Kulturszene nur anhand der jeweils konkret vorgebrachten Vorwürfe zu bewerten sind. Der Grundannahme jedoch, zeitlicher Abstand und langjähriges Schweigen sprächen gegen die Glaubwürdigkeit von Opfervorwürfen, wird ein Leser dieses Romans so schnell nicht mehr folgen.