Die Kulturszene geht vor die Hunde. Und führende Politiker stufen sie als „am ehesten verzichtbar“ ein. Talkshows dagegen erleben eine Art Renaissance – Corona sei Dank. Nimmermüde konsumieren wir im Fernsehen jene Formate, bei denen sich Menschen schlicht und einfach unterhalten. Und warum? Weil das für uns in einem Ausnahmezustand des Verzichtes so nicht einfach möglich ist. Die Gesellschaft dürstet nach Gesprächen und Diskussion – gerade jetzt, wo wir in unserem von Isolation bestimmten Alltag, der einem Hamsterrad ähnelt, ständig zuhause sitzen.

Sind wir ehrlich: Wenn beim abendlichen Hock auf dem Sofa „Anne Will„ oder „Maybrit Illner„ im TV läuft, sehnen wir uns als Zuschauer nach einer gewissen Hitzigkeit. Wo Gesprächsgäste ihre Meinungen ansonsten auch tatsächlich mit teils scharfer Würze vortragen und verteidigen, herrscht aktuell eher Kuschelstimmung. Der Zuschauer straft das jedoch keinesfalls ab. Er akzeptiert die lieblich gewordenen Talkshows, weil sich sein Wissensdurst gegen die Gier nach Live-Auseinandersetzung durchsetzt.

Ein Bild aus dem Jahr 2013: Die beiden Moderatorinnen Anne Will (links) und Maybrit Illner.
Ein Bild aus dem Jahr 2013: Die beiden Moderatorinnen Anne Will (links) und Maybrit Illner. | Bild: Kay Nietfeld/dpa

Die „Goldene Kartoffel“: Kein Preis zum rühmen

Wie war das noch im vergangenen Jahr? „Hart aber fair“ (ARD), „Maischberger„ (ARD), „Anne Will„ (ARD) und „Maybrit Illner„ (ZDF) – die vier politischen Gesprächsrunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – werden mit der „Goldenen Kartoffel“ ausgezeichnet. Dabei handelt es sich um einen Negativpreis für „besonders unterirdische Berichterstattung“, der vom Verein „Neue deutsche Medienmacher“ verliehen wird.

Die Begründung: Zwar habe die Jury qualitative Unterschiede in den einzelnen Formaten erkennen können. Trotzdem gelinge es keiner der Talkshows, tiefergehend zu informieren, vielfältige Perspektiven einzubinden und Ressentiments abzubauen. Das Urteil aus 2019 ist deutlich und vernichtend zugleich: Polit-Runden sind eintönig, langweilig, sie bieten keinen Mehrwert.

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Zurück zum Hier und Jetzt, wo Information an oberster Stelle steht. Dass professioneller Journalismus in diesen Tagen gefragt ist, beweisen sprunghafte Zugriffszahlen auf digitale Angebote genauso wie die Einschaltquoten von gestern noch gescholtenen TV-Talkrunden. Am Sonntag, 19. April, sahen laut Quotenmeter 4,2 Millionen Zuschauer „Anne Will„, das entsprach einem Marktanteil von 14,2 Prozent. Sogar auf Rekordniveau lief die Ausgabe vom 15. März. Mit 6,09 Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von beeindruckenden 22 Prozent war es die stärkste Sendung der jüngeren Vergangenheit. „Hart aber fair“ kam den Auswertungen von Quotenmeter zufolge am Montag, 20. April, auf 3,33 Millionen Zuseher, was eine Quote von 10 Prozent bedeutete.

Es wird also deutlich: Plötzlich sind Talkshows – wie sagt man so schön – systemrelevant. Die Menschen wollen Einschätzungen von Experten hören und sich mithilfe von Diskussionsrunden ihre eigene Meinung zu Covid-19 bilden. Die Pandemie-Stars der Stunde sind Virologen à la Christian Drosten, daneben Vertreter des Gesundheitssektors.

Das sagen die vier deutschen Polit-Talkshows im öffentlich-rechtlichen TV zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihre Sendungen

Rede und Gegenrede in Diskussionsrunden? Corona lehrt uns: das geht

Woher rührt der neu gewonnene Erfolg, den es zukünftig zu konservieren gilt? Nunja, in TV-Talkshows darf jetzt ausgeredet werden – zumindest größtenteils. Und das ist wahrlich ungewöhnlich, verspüren Vielredner doch den ständigen Druck, den Gegenüber möglichst oft zu unterbrechen. Eingeschnappt aus dem Studio stürmen, so wie einst Wolfgang Bosbach oder Alice Weidel? Aktuell undenkbar.

In Corona-Zeiten konzentrieren sich die Sendungen auf die Vermittlung von Informationen statt auf das Austragen von Debatten. Verbale Sticheleien gibt es aufgrund der prekären Thematik selten. Die Süddeutsche Zeitung kommt zum Resümee, „die Talkshows sind zu Sprechstunden der Nation geworden“.

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Da passt es ins Bild, dass stets dominante und souveräne Moderatorinnen wie Anne Will oder Sandra Maischberger in ihren eigenen Sendungen zu Nebendarstellern werden. Im Fernsehstudio hören sich alle nahezu andächtig zu. Nach- und Zwischenfragen gibt es zwar hier und dort, der Umgang miteinander wirkt aber insgesamt freundlicher.

Nebenbei bemerkt nehmen auch Videobeiträge in Fernseh-Runden eine neue Rolle ein. Sie sorgen zwischendurch für wenigstens etwas Abwechslung – sowohl visuell als auch auditiv. Die Einspieler sind deshalb wichtiger denn je.

Blick in die Glaskugel und die Warnung: Unverhofft kommt oft

Während Kulturschaffende aufgrund der Corona-Pandemie um die eigene Existenz fürchten – ja nahezu in die Röhre schauen – erfreuen sich TV-Talks einer kaum mehr erwarteten Beliebtheit. Was die Wills, Maischbergers und Co. daraus machen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Vielmehr entscheiden wohl die jeweiligen Redaktionen darüber, welche der aktuell präsentierten Werte dauerhaft in Sendungen verankert werden. Möglich ist auch, dass Polit-Runden nach Covid-19 in alte Muster zurückfallen. Dann aber wandern unverzüglich weitere „Goldene Kartoffeln“ in die Vitrinen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten.