„Wir wollen heute gemeinsam darüber nachdenken, was uns im Leben stark macht“: Mit diesen Worten begrüßte Gaby Hauptmann Ende Oktober ihre Gäste bei „Talk am See“. Es war eine typische Formulierung, weil der Aspruch des „gemeinsamen Nachdenkens“ diese Sendung bis zuletzt geprägt hat. Die Talkshow sollte einen Gegenpol bilden zu den aufgeregten Haudrauf-Veranstaltungen anderer Sender, entspannter, nachdenklicher, geduldiger. Doch jetzt ist dieses Format Geschichte, nach gerade mal einem halben Jahr.

Dass „gemeinsam nachdenken“ nicht zukunftsträchtig ist, wirft ein grelles Licht auf die im deutschen Fernsehen vorherrschende Gesprächskultur. Und wie sehr „Talk am See“ ihr widersprach.
Wie die Samstagabendshow einst als „Lagerfeuer der Nation“ gegolten hatte, so war die Talkrunde der Stammtisch in der Kneipe nebenan. Auch wenn es mal deftig zuging, blieb der Eindruck, dass es alle Beteiligte gut miteinander meinten, weil man ja irgendwie zum selben Dorf gehört. Trotz Live-Übertragung schien es, als werde der private Rahmen gewahrt, als spreche man in diesem Studio unter vier Augen.
Damit ist längst Schluss. Vor allem politische Talkshows haben jeden Anschein von Heimeligkeit verloren. Die Tageszeitung „Die Welt“ sieht in ihnen gar eine Gefährdung unserer Demokratie: „Politische Talkshows vergiften unser Miteinander, weil sie nur noch zu Extremen neigen.“
Populistischer Schaukampf
Was noch in den 90er-Jahren als eine wertvolle Erweiterung des parlamentarischen Diskurses schien, ist längst zur Arena für populistischen Schaukampf geworden. Bei Talkshows abseits des politischen Geschäfts sieht es nur wenig anders aus: Steile Thesen, grelle Figuren gehen über inhaltliche Substanz. Woran liegt das?
Der österreichische Philosoph Robert Pfaller sieht den Hauptgrund in der immer rigideren Planung. In früheren Zeiten, so lautet seine These, seien Menschen eingeladen worden, heute sind es Rollen. „Es ist ja bezeichnend, dass die Gäste immer schon mit ihrer These vorgestellt werden. Dann muss man die aber auch zwei Stunden lang vertreten.“
Als Freaks eingeladen
Was Abend für Abend unter dem Label „Talkshow„ über die Sender geht, ist die groteske Verzerrung dessen, was ein Gespräch eigentlich ausmacht: Zuhören, Argumente abwägen, voneinander lernen. Die ausgebeutete Reinigungskraft darf nur als Opfer mitdiskutieren, der Wirtschaftsboss nur als Zyniker: „Alle sind eingeladen, als die Freaks, die sie sind.“

One-Trick-Ponys nennt Pfaller diese Figuren: Sie beherrschen nur eine Rolle, und die dürfen sie um nichts in der Welt verlassen, weshalb auf eine Kraft der Argumente, auf eine gegenseitige Überzeugung gar niemals zu hoffen ist. Eigentlich hat sich jegliche Debatte bereits mit der Vorstellungsrunde erledigt.
Die Geduld schrumpft
Gaby Hauptmann versuchte, dieses Prinzip zu durchbrechen. Ob Paola Felix oder der Unternehmer Roland Mack: Stets ging es um das ganze Leben mit seinen Widersprüchen und Irrwegen. Doch die Geduld dafür schrumpft, der Zuschauer ist ans wohlbekannte Rollenspiel gewöhnt. Tatsächlichen Menschen zu begegnen wie einst am Stammtisch um die Ecke: Damit rechnet kaum noch jemand.
Während einst also Persönlichkeiten gefordert waren, werden heute Freaks engagiert. Doch das ist nicht alles: Die eingeladenen Gäste haben inzwischen auch allen Grund, sich auf das Rollenspiel im eigenen Interesse einzulassen. Mögen sie dabei auch einfältig erscheinen, bewegen sie sich wenigstens auf sicherem Terrain. Denn nichts ist gefährlicher als der Kontrollverlust: der plötzliche Einblick eines Millionenpublikums ins eigene Weltbild.
Angst vor dem Shitstorm
„Sie haben Angst vor einem Shitstorm, sie haben Angst davor, sich missverständlich auszudrücken, weil vor allem im Online-Bereich gerne einzelne Zitate rausgegriffen und rausgeballert werden in die Welt“, sagte kürzlich Judith Rakers, Moderatorin der NDR-Talkshow „3 nach 9“, über ihre Gäste. Als einmal während einer Sendung Mettbrötchen gereicht wurden, wollte niemand zugreifen: „Im Nachhinein haben einige gesagt, sie hätten gerne davon gegessen.“ Doch allein der Gedanke an mögliche Reaktionen von Tierschützern verdarb ihnen den Appetit.
Der Stammtisch hat nicht nur seine echten Kunden aus Fleisch und Blut an groteske Rollenbilder verloren. Ihm ist auch das private Ambiente abhanden gekommen. Das Publikum sitzt nämlich nicht mehr nur vor dem Fernseher, sondern im Zeitalter der sogenannten sozialen Netzwerke buchstäblich mit am Tisch.
Das alles ist bedenklich, weil Talkshows noch immer den Eindruck erwecken, sie bildeten die Wirklichkeit ab. Aus ihrem Beispiel leiten Menschen die Überzeugung ab, das Ändern der eigenen Meinung unter dem Eindruck starker Argumente sei Ausdruck einer Niederlage. Sie glauben, man müsse ein Freak sein, um es zu etwas zu bringen. Und statt Menschen sehen sie unfehlbare Heilige, die nicht einmal in ein Mettbrötchen beißen mögen, wenn ihnen danach ist.
Die letzte Folge von „Talk am See“ kommt am Samstag, 7. Dezember, um 22.20 Uhr im SWR-Fernsehen.