Das Grundgesetz wurde heute vor 75 Jahren erlassen – es ist damit eine ziemlich alte Verfassung. Es ist auch kein neutraler Text, sondern wurde als Lehre aus der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 ins Werk gesetzt, als eine Werteordnung, als „Gegenentwurf zu Gewaltherrschaft und Diktatur“, hat das Bundesverfassungsgericht einmal gesagt. Aber wie lauten die Artikel genau – und was bedeuten sie den Menschen? Darauf geben acht Prominente eine Antwort.
Georgine Kellermann, Transfrau und Journalistin, Artikel 2

Aus Artikel 2 des Grundgesetzes: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
„Eigentlich ist Artikel 2 des Grundgesetzes eine Selbstverständlichkeit. Aber eben nicht überall. Dafür, dass er bei uns eine Selbstverständlichkeit bleibt, setze ich mich ein. Und ich danke allen, die das auch tun. ,Ich möchte in Euren Herzen sein. Nicht in Euren Köpfen.‘ Dieses Zitat kommt mir dabei in den Sinn. Wie einfach es wäre, wenn wir alle diesen Artikel leben. Aber nicht, weil wir vom Gesetz dazu aufgefordert werden, sondern weil wir es ehrlich wollen. Es ist eine Utopie, aber eine, die ich gerne träume. In diesem Traum steht Artikel 2 nicht im Gesetzestext. Sondern wir tragen ihn alle in uns. Wie einen genetischen Code. Solange das eine Utopie bleibt, bin ich froh, dass der Text im Grundgesetz steht, und wir müssen alles dafür tun, dass das immer so bleibt.“
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Artikel 4
Aus Grundgesetz und Artikel 4 der Grundrechte: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
„Es ist seine lakonische Klarheit, die das Grundgesetz zu einem Bollwerk gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Menschenfeindlichkeit macht. Wir tun als Gesellschaft gut daran, uns immer wieder darauf zu besinnen. Die Dinge sind manchmal weniger kompliziert, als wir meinen, sondern müssen nur klar beim Namen genannt werden. Unsere Verfassung bestimmt unsere Art zu leben, wie wir miteinander umgehen, und sie stellt über alles die Würde des Menschen. Das Grundgesetz markiert einen Anspruch, an dem wir uns jeden Tag orientieren. Es ist der Geist des Grundgesetzes, der in ihm verankerte Gleichheitsgrundsatz sowie die Religionsfreiheit und die klare Ausrichtung auf eine offene und freie Gesellschaft, der die Grundlage für jüdisches Leben in Deutschland überhaupt bildet.“
Gaby Hauptmann, Journalistin und Schriftstellerin aus Allensbach, Artikel 5
Aus Artikel 5 des Grundgesetzes: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
„Eine der Säulen der Demokratie ist die Pressefreiheit. Was ohne Pressefreiheit passiert? Autokraten erfinden die Wahrheit und die Bevölkerung hat keine Chance, sich neutral zu informieren. Alle Rundfunksender und Zeitungen im Gleichklang, und die Menschen im Gleichschritt. Wir sehen das in vielen Ländern dieser Welt. Wer anders denkt, anders schreibt – wird als Feind behandelt. Und verschwindet. Dagegen dürfen sich Menschen in demokratischen Staaten jeden Tag über das Gelesene, Gehörte oder Gesehene mokieren, ohne eingesperrt zu werden. Das ist nicht nur Pressefreiheit – das ist die Freiheit in einer Demokratie!“
Peter Lenk, Künstler aus Bodman-Ludwigshafen, Artikel 5
Aus Artikel 5 des Grundgesetzes: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
„Weniger Kunst wagen. ‚Pressefreiheit, öffentliche Verhandlungen? Unbequem und gefahrvoll, wenn Sie mich fragen.‘ Diesem Zitat von Großherzog Ludwig von Baden sprengt der Überlinger OB Zeitler mit Elan hinterher. Bei ihm sind es Polit-Satiren, die seinen Wahlkampf gefährden. Kurz vor Eröffnung meiner Ausstellung ,Das Trojanische Pferd‘ werden Plakate entfernt, gedruckte Flyer und Einladungen eingestampft. Bloß nicht den Kretschmann reizen, auf einem riesigen Plakat, mit verzerrtem Gesicht und seiner Botschaft: ,In einer Demokratie entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit.‘ Tröstlich: Hatte die Konstanzer CDU damals leidenschaftlich mit allen weltlichen und kirchlichen Mitteln versucht, der lästerlichen Imperia den Garaus zu machen, wirbt der CDU-Kreisverband Konstanz heute mit ihr unter dem Slogan: ,Starke Union. Starke Heimat.‘ Es darf gelacht werden!“
Marianne Arndt, katholische Seelsorgerin und Flüchtlingshelferin aus Köln, Artikel 6
Aus Artikel 6 des Grundgesetzes: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
„Der Artikel 6 ist mir als Seelsorgerin besonders wichtig. Leider erlebe ich im Umgang mit Geflüchteten oder Menschen mit Migrationsgeschichte oft, dass er keine große Rolle spielt. Bei Abschiebungen wird das Kindeswohl immer wieder mit Füßen getreten, und den Eltern wird ihr Recht und ihre Pflicht zur Erziehung einfach entzogen. Wenn wir das Grundrecht auf den besonderen Schutz von Ehe und Familie ernst nehmen, dann müssen wir uns darum unabhängig von der Staatsangehörigkeit bemühen. Dann muss gerade in Situationen, in denen es darauf ankommt – etwa bei einer Abschiebung – hinterfragt werden, ob sie mit Artikel 6 des Grundgesetzes vereinbar ist. Gleichzeitig ermöglicht dieses Grundrecht auch Familienzusammenführungen – eine habe ich erst vor Kurzem begleitet: Ein afghanischer Mann konnte nach acht Jahren endlich seine Frau und seine Tochter in die Arme nehmen.“
Bernd Ridwan Bauknecht, konvertierter Muslim und Lehrer für islamischen Religionsunterricht aus Bonn, Artikel 7
Aus Artikel 7 des Grundgesetzes: Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.
„Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht an deutschen Schulen ist das einzige Schulfach, das im Grundgesetz erwähnt wird. Er sollte ein Gegengewicht zu Gefahren politischer Ideologisierung darstellen. Noch heute ist er eine wichtige Säule. Allerdings haben sich die gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse geändert. Es stellt sich vermehrt die Frage, ob und wie Religionsunterricht stattfinden soll. Das Prinzip des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts sollte dabei nicht aufgehoben werden, zumal es genügend Spielräume offenhält. Es ist zum Beispiel denkbar, dass Unterricht gemischtreligiös stattfindet. Die Schüler wären herausgefordert, in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber das eigene Bekenntnis zu hinterfragen, zu fundieren und zu erweitern. Das wäre ein wirklicher bekenntnisorientierter Unterricht und weniger eine Religionsunterweisung.“
Hartmut Richter, ehemaliger DDR-Häftling und Fluchthelfer, Artikel 11
Aus Artikel 11 des Grundgesetzes: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
„Das Recht auf Freizügigkeit habe ich verinnerlicht. Mein erster Fluchtversuch aus der DDR scheiterte, danach gelang mir 1966 mit 18 Jahren die Flucht. Anstatt mein Abitur zu machen, arbeitete ich dann als Steward auf Schiffen. Ich hatte das Bedürfnis, fremde Länder kennenzulernen und habe die Seefahrt sehr genossen. Wir legten unter anderem in New York und Japan an, es war eine tolle Zeit. Der ganze Ostblock war für mich als Republik-Flüchtling ja bis 1972 tabu. Ab 1973 habe ich dann anderen Menschen geholfen, aus der DDR zu fliehen – aber nicht aus kommerziellen Gründen! In der Haft später habe ich von den Reisen gezehrt. Ich wollte mich nie von Grenzen aufhalten lassen, erst recht nicht von ideologischen.“
Joachim Schneider, Polizeidirektor und Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Artikel 13
Aus Artikel 13 des Grundgesetzes: Die Wohnung ist unverletzlich.
„Jeder Mensch hat das Bedürfnis, einen Ort zu haben, an den er sich ungestört zurückziehen und an dem er sich frei entfalten kann. Dass der Schutz der ‚eigenen vier Wände‘ einen ganz besonderen Stellenwert hat, macht Artikel 13 unseres Grundgesetzes ganz unmissverständlich gleich an erster Stelle deutlich: Die Wohnung ist unverletzlich. Für mich als Polizist wird gerade bei Wohnungseinbrüchen sichtbar, welch gravierende Folgen es für Betroffene hat, wenn Fremde in ihren intimsten Lebensbereich eindringen. Schon der materielle Verlust wiegt schwer. Aber was betroffene Menschen dabei psychisch erleiden, prägt sich nicht selten als lebenslanges Trauma aus. Das ist der Grund, warum mein Polizeiherz ganz besonders für die Prävention schlägt. Bereits einige einfache Verhaltensregeln und ein sinnvoller mechanischer Schutz zeigen deutlich Wirkung: Fast die Hälfte aller Wohnungseinbrüche scheitern – weil Prävention wirkt!“