Die Welt ist im Umbruch, und so mancher, der sich dabei auf der Seite des Fortschritts wähnt, könnte noch eine böse Überraschung erleben. Das Neue von heute ist nämlich immer schon das Alte von morgen gewesen. Die Kunstgeschichte ist voll von Beispielen für Avantgardisten, die mit der Zeit zu Sinnbildern des Stillstands wurden.

Ferdinand Hodler als Schweizer Nationalikone

Ferdinand Hodler (1853-1918) etwa, bedeutender Maler des Symbolismus und Schweizer Nationalikone, gilt vielen allein schon deswegen als politisch verdächtig: Der Titel „Nationalikone“ fügt sich heute ja nicht mehr ganz so leicht in die Zeit, wie es früher einmal gewesen sein mag.

Der seinen Landschaftsdarstellungen zugrunde liegende Heimatbegriff mutet inzwischen allzu idyllisch an, die nackten Figuren erinnern so manchen fatal an den Körperkult der Faschisten, und sein Blick auf Frauen wirkt klischeebelastet, patriarchalisch.

Umso mehr lohnt es sich, in diesem vermeintlich Überholten, Alten das Neue, Zukünftige zu entdecken. Denn was aus heutiger Perspektive rückständig erscheint, ist in Wahrheit mal die progressive Antwort gewesen auf eine Zeit voller Verunsicherung.

Als Hodlers Kunst entstand, fanden sich Männer statt auf dem Feld plötzlich in fahl beleuchteten Büros wieder. Durch die eben noch unberührte Natur pflügten nun Lokomotiven. Und den Himmel verdunkelten Fabrikschornsteine. Die Industrialisierung hatte den Menschen und seine Welt aus den Fugen gerissen.

Kunsthaus Zürich konfrontiert Klassiker

Das Kunsthaus Zürich konfrontiert diesen Klassiker der beginnenden Moderne mit Künstlern, die heute im Zeichen von Digitalisierung, Globalisierung und hybrider Kriegsführung ihrerseits vor Umwälzungen historischen Ausmaßes stehen. Worin also gleicht, worin unterscheidet sich der Umgang zweier Künstlergenerationen mit einem Epochenbruch?

Stichwort Spiritualität. Mit der Industrialisierung, so lautete eine zur Jahrhundertwende verbreitete Wahrnehmung, habe der Mensch den tieferen Sinn seines Seins verloren.

Wenn Hodler die Landschaft seiner Schweizer Heimat, dieses Durcheinander an Fels und Eis, Himmel und Wolken, Grün und Blau zu einer so harmonisch anmutenden Komposition formt, als handele es sich um die nüchterne Struktur der norddeutschen Tiefebene: Dann gibt sich darin der Wille zu erkennen, im Chaos der Wildnis eine göttliche Orientierung auszumachen.

Heute vertieft sich auch eine Künstlerin wie Caroline Bachmann auf der Suche nach Transzendenz in die Natur. Doch anders als seinerzeit Hodler begibt sie sich dabei nicht selbst hinein.

Problem liegt in der Beschleunigung der Welt?

Ihre Ansicht des Genfer Sees ist vielmehr im Atelier entstanden, zu sehen sind eine magisch leuchtende Öffnung in dunklen Wolken und auf dem Wasser geheimnisvoll illuminierte Objekte. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg habe sie an diesem Bild gearbeitet, heißt es:

Vielleicht, so lässt sich das verstehen, liegt das Problem unserer verkümmerten Sinne ja gar nicht in der Industrialisierung und Rationalisierung unserer Welt – sondern in deren Beschleunigung.

Blick auf den Genfer See: „Grand nuage jaune et gris“ von Caroline Bachmann.
Blick auf den Genfer See: „Grand nuage jaune et gris“ von Caroline Bachmann. | Bild: Kunsthaus Zürich

Stichwort Geschlechteridentitäten. Wer genau hinsieht, der erkennt in Hodlers Werk durchaus Abweichungen von den Klischeevorstellungen seiner Zeit. Dann rudert ein „Mutiges Weib“ (1886) sein wackliges Boot mit kräftigen Armen durch die stürmischen Wellen.

Der Gesichtsausdruck ist entschlossen, der Körper strahlt die Selbstsicherheit eines vom Schicksal geprüften Menschen aus. Hohn und Spott soll Hodler von Kritikern für diese wenig anmutige Darstellung geerntet haben. Dabei entsprach sie ganz einer neuen, offensiveren Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Eine ungewohnte Perspektive auf die Frau: „Das mutige Weib“, 1886.
Eine ungewohnte Perspektive auf die Frau: „Das mutige Weib“, 1886. | Bild: Kunsthaus Zürich

Geschlechtergrenzen stehen heute infrage

Heute stehen die Geschlechtergrenzen an sich infrage. Sabian Baumann blickt aus nonbinärer Perspektive auf den Identitätsdiskurs, kreiert fantastische Ökosysteme, in denen acht Hauptgeschlechter hochkomplexe Zeugungs- und Gebärprozesse organisieren.

Das sieht mal aus wie einem Biologielehrbuch entnommen, oft genug aber wie ein Zitat bekannter Vorbilder. Mal meint man Dalí zu sehen, mal Magritte und sogar Picasso.

Allein der Fokus bleibt unscharf: Was die surrealen Szenarien über ein künftiges Geschlechterverständnis sagen können, lässt sich kaum erahnen. Präziser und erfrischender wirken da die fotografischen Selbstporträts der US-Amerikanerin Laura Aguilar, die ihren massigen Körper nackt in steinige Landschaften platziert.

Im Zusammenspiel von hart und weich, belebt und unbelebt offenbart sich eine Ästhetik abseits gängiger Vorstellungen von weiblicher Schönheit.

Neue Vorstellung von Schönheit: Laura Aguilars „Grounded #107“, 2006/2007.
Neue Vorstellung von Schönheit: Laura Aguilars „Grounded #107“, 2006/2007. | Bild: Estate of Laura Aguilar

Stichwort Zugehörigkeiten. Eine Möglichkeit, etwas vom dörflichen Gemeinschaftssinn in die moderne Großstadt hinüberzuretten, bestand zu Hodlers Zeiten in der Beförderung des Vereinswesens. Insbesondere Turnvereine standen hoch im Kurs, in ihnen übten junge Männer nicht nur die körperliche Ertüchtigung, sondern auch Mannschaftsgeist und Gehorsam.

Vordergründig ein Freizeitangebot, war der Turnverein in Wahrheit ein Vorbereitungsprogramm für den Wehrdienst. „Das Turnerbankett“ (1877/78) vermittelt davon einen plastischen Eindruck: Andächtig lauschen die jungen Männer dem Vortrag ihres Turnlehrers. Bartwuchs und Frisur verraten unterschiedliche Altersklassen und soziale Wurzeln.

Die beiläufig positionierte Schweizer Flagge gilt diesen Individuen erkennbar als gemeinsamer Fixpunkt. Wie sieht das in heutigen Vereinen aus?

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Wettbewerb ist allen gemeinsam

Und genau das, der Wettbewerb, ist ihnen allen gemeinsam. Man könnte annehmen, der vom kapitalistischen Alltagsstress geplagte Mensch des 21. Jahrhunderts suchte in seiner freien Zeit nach Erholung und Ausgleich.

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Nirgends geben sich die tieferen Ursachen und Mechanismen gesellschaftlicher Umbrüche deutlicher zu erkennen als in der Kunst. In der Zürcher Ausstellung entpuppt sich Ferdinand Hodler als scharfer Analyst seiner Zeit.

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„Apropos Hodler – Aktuelle Blicke auf eine Ikone“, bis 30. Juni im Kunsthaus Zürich. Öffnungszeiten: Di.-Mi., Fr-So 10-18 Uhr, Do. 10–20 Uhr. Weitere Informationen gibt es hier.