Eigentlich ist die Stuttgarter Liederhalle derzeit verwaist. Im Parkhaus sind die direkten Zugänge zu den Sälen gesperrt. Das sonst ausgebuchte Kultur-und Kongresszentrum mit seinen fünf Konzertsälen und vierzehn Konferenzräumen liegt im Dornröschenschlaf. Ein Teil des komplexen Gebäudes wird gerade renoviert.
Im 2100 Plätze aufweisenden Beethovensaal, wo das SWR Symphonieorchester normalerweise seine Abo-Konzerte spielt, ist an diesem Morgen das Leben zurückgekehrt. Kameras rollen über das Parkett, Instrumentenkoffer werden ausgepackt. Drei Tage wurde das Konzertprogramm geprobt. Heute wird das Ergebnis in Bild und Ton festgehalten.
Aufstellung mit dem Zollstock
Die Corona-Krise hatte auch das SWR Symphonieorchester mitten in seiner Europatournee mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis voll erwischt. Das letzte Konzert wurde am 5. März in Madrid gespielt. Die Wartezeit überbrückte das Orchester in kleinsten Besetzungen mit Open-Air-Ständchenkonzerten in Altenheimen und dem Konzertformat „1:1 Concerts“, bei dem ein Musiker auf einen Zuhörer traf. Nachdem das Kontaktverbot gelockert wurde, durfte das Orchester auch in größeren Besetzungen auf die Bühne kommen.
Drei Produktionen ohne Publikum im Funkstudio sind schon für SWR Classic entstanden. Für die 31-köpfige Besetzung, die für Arthur Honeggers Symphonie Nr. 2 notwendig ist, wählte man nun die große Liederhalle. Die Bühne wurde abgesenkt, sodass die Kameras in einem Halbkreis um das Orchester bewegt werden können.
Alle spielen im Stehen
Jeder der dreißig Streicher hat einen eigenen Notenständer. Bis auf die Cellisten spielen alle im Stehen. Der Trompeter intoniert den Schlusschoral auf der Empore. „Die Orchesteraufstellung müssen wir seit den strengen Corona-Vorschriften mit dem Zollstock machen. Zwischen den Streichern halten wir zwei Meter Abstand ein. Zum Dirigenten beträgt die Distanz drei Meter“, erklärt Orchesterwart Karsten Gädicke.
Die Vorgaben werden von der VBG (Verwaltungs-Berufsgenossenschaft) ständig aktualisiert. Ein Krisenstab im Sender ist Ansprechpartner für Detailfragen. Für die Blechbläser, die am Nachmittag eine Suite aus der „West Side Story“ von Leonard Bernstein spielen, wurden zusätzliche Plexiglasscheiben zwischen den einzelnen Musikern aufgebaut.
Im normalen Konzertbetrieb kommt das Management mit einem fertigen Programm zu den Orchesterwarten, die dann einen Bühnenplan anfertigen. „Jetzt verläuft der Prozess umgekehrt. Wir sagen, was auf einer Bühne überhaupt machbar ist. Erst dann wird entschieden, was gespielt werden kann“, erklärt Gädicke.
Alles ist angerichtet für die Fernsehaufnahme. Der Produktionsleiter verteilt noch einige Papiertücher, damit der Schweiß von der hohen Stirn getupft werden kann. Honeggers 1942 komponierte Symphonie, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs reflektiert, beginnt in den tiefen Streichern. Der Klang mischt sich gut, obwohl die Musiker weiter auseinander stehen als gewohnt.
Dirigent Lorenzo Viotti ist sehr aktiv in seinem eng geschnittenen Anzug. Das Orchester spielt expressive, raue Töne, aber auch einen ganz luftigen Klangteppich, der zur Grundlage wird für das innige Cellosolo im zweiten Satz. Auch die Kontrabässe klingen in hoher Lage ganz homogen. Nach einem Durchlauf wird nochmals an Details gearbeitet.
Das Publikum fehlt
Für die Solokontrabassistin Konstanze Brenner ist es das erste Mal, dass sie wieder mit ihren Kollegen zusammenspielt. Sie vermisst das Publikum, aber genießt es, wieder gemeinsam zu musizieren. „Das Orchester hat wie für ein normales Konzert auf den Punkt geprobt und dann ohne Unterbrechung das Werk gespielt. Wir hatten eine gute Spannung. Die größeren Abstände zwischen den Kollegen waren kein Problem im Zusammenspiel“, sagt Brenner.
Trompeter und Orchestervorstand Christof Skupin schätzt es ebenfalls, „wieder in Richtung Normalität zu kommen.“ Die größeren Abstände sind für die Blechbläser eine Herausforderung. „Das Zusammenspiel ist am besten, wenn man eng zusammensitzt. Dann kann man auch das Atmen der Kollegen hören. Aber es gibt im Augenblick keine Alternative.“
Schlagzeuger Jochen Schorer hat die lange Pause bei der ersten Probe gemerkt. „Ich war aufgeregter als sonst, weil mir die normale Konzertroutine fehlt.“ Bei der Aufnahme spielt er seine zahlreichen Soli an Vibraphon und Glockenspiel trotzdem fehlerlos und mit dem notwendigen Groove.
Scharfer Brass-Sound
Durch das fehlende Publikum knallt der scharfe Brass-Sound ein wenig im Saal. Eine Betonwand ist auch nicht gerade die ideale Reflexionsfläche für Blechbläser. Die vier Hornisten und sechs Trompeter stehen, von einer Plexiglasscheibe getrennt, in einem Halbkreis. Dahinter postieren sich Posaunisten, Tubisten und die drei Schlagzeuger. Zu den schnellen Stücken wie „Mambo“ liefern die Scheinwerfer eine kleine Lightshow. Am Ende wird der jazzige Sound ins Bombastische gedreht und die „West Side Story“ mit Pauken und Trompeten zu einem strahlenden Schluss inszeniert.
Die Produktion ist im Kasten. Die Musiker ziehen wieder die Atemschutzmaske auf, weil sie die Bühne verlassen. Auch für Lorenzo Viotti war es das erste Dirigat seit dem Lockdown am 11. März. Zuvor war der 30-jährige Schweizer noch bei den Berliner Philharmonikern für die dritte Symphonie von Gustav Mahler eingesprungen und hatte Projekte mit seinem eigenen Orchester in Lissabon.
Die Energie fließt trotzdem
Die sieben Stunden Probe am Tag habe er am Abend körperlich gespürt, sagt er beim Gespräch im Foyer. „Das war ich nicht mehr gewohnt.“ Am liebsten habe er es, dem Orchester sehr nah zu sein, aber die Energie fließe auch trotz der größeren Distanz.
„Wir können wieder zusammenspielen. Das ist die gute Nachricht und ein erster, wichtiger Schritt“, sagt Viotti. Das Publikum vermisst auch er. „Wir müssen Geduld haben, ehe wir wieder mit einer großen Besetzung in vollen Sälen auftreten können.“ Für ihn war für lange Zeit kein weiteres Engagement in Sichtweite. Jetzt wird er kurzfristig das Dirigat der „Csárdásfürstin“ an der Züricher Oper übernehmen, deren Premiere der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen war und nun für den Herbst geplant ist. Ein weiterer Schritt Richtung Normalität.
Ab 26. Juni ist die Produktion als Stream auf SWR Classic zu sehen.