Werfen sie Ihren Hegel nicht weg! Es könnte sein, dass seine Philosophie zum Verstehen einer Zukunft taugt, von der keiner weiß, ob und wie sie kommt. China rüstet sich jedenfalls mit zwei monumentalen Hegel-Übersetzungen nicht nur für ein authentisches Verständnis der Philosophie des deutschen Idealismus, sondern auch für eine ungewisse Zukunft. Die malt sich einer der bedeutendsten Hegelianer in seinem futuristischen Buch „Hegel im verdrahteten Gehirn“ aus: Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek.
Freier Wille für posthumane Wesen?
Er und wir wissen nicht, wie weit die realen Experimente mit einer direkten Verbindung des menschlichen Gehirns mit einer digitalen Maschine gediehen sind und ob sie gelingen werden. Aber dem Zusammenwirken zwischen Kapitalismus und wissenschaftlich-technischem Fortschritt traut er es zu. Also macht er sich vorsorglich Gedanken darüber, was eine solche Mensch-Maschine-Schnittstelle mit dem Menschen anstellen könnte, ob diesem „posthumanen“ Wesen so etwas wie „freie Entscheidung“ oder „freier Wille“ bleiben könnte.
Natürlich kann der vor 250 Jahren geborene Hegel keine Antwort auf Fragen geben, die – vielleicht – erst in der Zukunft gestellt werden. Žižek dreht die Frage um: Wie sieht unsere Gegenwart, in der die Zukunft heraufdämmert aus, wenn wir sie mit der Philosophie Hegels betrachten?
Im „verdrahteten Gehirn“ geht es um die möglichen Auswirkungen eines direkten Anflanschens digitaler Hochleistungsmaschinen an das menschliche Gehirn. Ausgehend vom Moor‘schen Gesetz, demzufolge sich der technisch-wissenschaftliche Fortschritt schneller als exponentiell entwickelt und eingedenk des Hypes um die sogenannte Künstliche Intelligenz, werde es nach Žižek höchste Zeit, sich Gedanken über die Zeit zu machen, in der der Mensch den sich selbst beschleunigt entwickelnden unvorstellbaren Rechenleistungen von Computern mit seinem begrenzten Gehirn nicht mehr folgen kann.

Was geschieht, wenn schon die noch unausgesprochenen Gedanken eines Menschen auf andere, ebenso ausgestattete „posthumane“ Lebewesen übertragen und auch „beantwortet“ werden, was geschieht mit der individuellen Freiheit in einer solchen schneller „denkenden“ und universell „verdrahteten“ Welt, die natürlich drahtlos funktionieren würde? Was geschieht zum Beispiel mit unserer Sexualität, wenn unser Begehren bereits dem begehrten Anderen über die beiden Gehirn-Maschine-Schnittstellen bekannt würde?
Žižek ist nicht nur ein origineller Philosoph, sondern auch Psychoanalytiker der Schule nach Jacques Lacan, einem französischen Neuinterpreten von Sigmund Freud. Die Doppelperspektive aus der Sicht von Hegel und Lacan bestimmt den Husarenritt durch eine Zukunft, die wir uns nicht vorstellen können.
Ein originelles Paradox ist der Blick von Hegel auf diese Zukunft. Der hatte in seinen vor 250 Jahren erschienenen „Grundlagen der Philosophie des Rechts“ die Eule der Minerva als Symbol der Philosophie aufgerufen: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug.“ Er meinte damit, dass die Philosophie nur Vergangenes deuten könne, dass sie eine bereits erfahrbare Wirklichkeit voraussetze und nicht aus sich selbst utopische Phantasien entwickeln könne.
Die Eule der Minerva
Žižek lässt in seinem Buch die Eule der Minerva nicht in der Abenddämmerung, sondern im Morgengrauen fliegen, im Anbruch einer Zukunft, die selbst ihre eigenen Utopien schaffen wird. Wenn er Hegels Eule sozusagen „über Nacht“ überholt, nimmt er dessen Aussage genau, dass jede neue, „höhere“ Gesellschaft ihre eigenen Widersprüche erzeugt, die wir nicht voraussagen können.
Mit der Voraussage solcher unbekannten Widersprüche in der „posthumanen“ Welt der verdrahteten Gehirne nimmt der den Propheten dieser Neuen Welt (etwa Raymond Kurzweil mit seinem Begriff der „technologischen Singularität“ oder Elon Musk, der ja nicht nur Elektroautos herstellt oder im Weltraum herumfliegt, sondern mit seinem Unternehmen „Neuralink“ an einer solchen Zukunft arbeitet) den Wind aus den Segeln ihres Optimismus. Zugleich widerspricht er aber auch den Untergangspropheten.
Starker Tobak
Das alles ist starker intellektueller Tobak, mitunter nicht leichter verständlich als Hegel im Original. Žižek malt aber nicht „Grau in Grau“, sondern streut farbige Beispiele aus der Filmwelt, aus der Musik und der Literatur zwischen seinen philosophisch-futuristischen Parforceritt durch die Welt einer sich nähernden Zukunft. Er dosiert sehr fein Prisen von Humor und unterstellt menschenfreundlich und nicht posthuman, dass die neue „technische Singularität“ manchen intelligenten Witz nicht kapieren dürfte.
Slavoj Žižek: Hegel im verdrahteten Gehirn, aus dem Englischen von Frank Born, S. Fischer: Frankfurt am Main 2020; 283 Seiten, 22 Euro