Das kommt dabei heraus, wenn die Evolution gepfuscht hat. Den Zahnwal hat sie mit eingebauten Ohrenstöpseln ausgestattet, die er ganz einfach aktivieren kann, um sich gegen allzu laute Geräusche zu schützen. Der Mensch aber kann bloß seine Augen schließen, die Ohren bleiben den Missklängen des Lebens wehrlos ausgeliefert.
Schlimm genug, doch was will man auch erwarten, wenn die ganze Schöpfung schon mit dem Urknall begann?
Es hat schon alles mit einem Knall angefangen
Wäre die Welt nicht mit einem gigantischen Bums entstanden, sondern aus sanft raschelndem Seidenpapier gewickelt worden, es gäbe heute aus Ehrfurcht vor diesem Anfang bestimmt keine Presslufthämmer, Düsenjets, Kreissägen und all die anderen Geräusche, die nach Exorzismus klingen. Wir bräuchten weder Ohrenstöpsel noch Schlaftabletten, um uns Abstand von einem akustisch ungepflegten Alltag zu verschaffen.
Doch legitimiert durch den krachenden Start des Universums nehmen Menschen keine Rücksicht und versetzen einander durch selbst produzierten Lärm in andauernden Aufruhr. Sie fahren röhrende Autos, bedienen ratternde Maschinen, essen schmatzend, trinken schlürfend und lassen sich in Shoppingzentren mit Charts-kompatiblem Plastikgedudel beschallen.
Im Zugabteil klappern Geschäftsleute auf der Tastatur ihrer Laptops das Morse-Alphabet der Wichtigtuer, während Frauen mit Spottdrossel-Stimmen stundenlang und äußerst effektvoll in ihre Smartphones reden, und immer, wirklich immer quält irgendjemand seinen Sitznachbarn mit hochtönigem Pfeifen und Zischen, das so klingt, als würde ein Bienenschwarm in seinen Ohren stecken, dabei sind es nur minderwertige Kopfhörer.
Im Paradies kann jeder gut gelaunt sein; wer es auch in dieser Lärmhölle auf Erden schafft, der hat sich Noise-Cancelling-Kopfhörer gekauft.
Ein Pling bei jeder Gelegenheit
Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Welt wird vor allem das nervige Piepsen elektronischer Geräte noch zunehmen. „Pling“ wird die Wetter-App machen, wenn ein Gewitter aufzieht, die Zahnbürste wird mehr oder weniger melodiös den fälligen Zahnarzttermin anmahnen und die Waschmaschine nach einer Entkalkung verlangen. Die akustischen Angriffe weiten sich aus, dabei liegt das leise Leben doch schon längst im Hospiz.
Gemäß eines aktuellen Berichts der Europäischen Umweltagentur mit dem Titel „Lärm in Europa – 2020“ gelten gerade einmal 18 Prozent der Flächen des Kontinents noch als ruhig, und mindestens jeder fünfte Europäer ist einem Lärmpegel ausgesetzt, der krank macht.
Wer in einer lauten Umgebung mit über 55 Dezibel lebt, ist gefährdet. Ihm drohen Bluthochdruck, Herzleiden, Tinnitus und schwere Schlafstörungen. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt einen Geräuschpegel von 30 Dezibel für erholsame Nächte und maximal 40 Dezibel für stressfreie Tage.

Ab aufs Land, denkt sich deshalb der lärmgeplagte Großstadtbewohner und zieht in die bäuerlich geprägte Agglomeration. Dort findet er heimelige Dörfer und Städtchen, drum herum Felder, Wiesen und bewaldete Hügel, aber kein geräuschgedämpftes Glück.
Mindestens ein Frühaufsteher wohnt immer mit im Haus, und der erspart einem die Mühen des Weckerstellens, indem er gegen 5.30 Uhr mit lautem Donnern die Fensterläden aufstößt und damit das Startsignal gibt für die erste Hunde-Spielstunde in der Wohnung nebenan, wo eine 50 Kilogramm schwere Dogge ihrem Hartplastikknochen in XXL-Größe hinterher hechtet.
Vor der Haustür warten derweil schon ein Dutzend seiner kläffenden Hundefreunde samt Besitzer, die das laute Bellen ihrer Hunde schreiend übertönen, um sich einen guten Morgen wünschen zu können.
Die Karawane der Kinder
Nach und nach treffen nun die ersten Gärtner, Handwerker und Müllentsorger ein, und um kurz vor acht Uhr ziehen schließlich Kinder-Karawanen in heiterer Unschuld, aber unüberhörbar auf ihrem Weg zu Kindergarten und Schule unter dem Fenster vorbei.
Der Hausmeister saugt das Treppenhaus, der Gärtner braust mit seinem Sitzrasenmäher über das Gelände und gegenüber startet das Laubbläser-Konzert. Bis alles geputzt, gestutzt, weggeblasen und sandstrahlgereinigt worden ist, schlägt die Kirchturmuhr schon drei.
Kinder-Rudel ziehen heimwärts und plärren sich dabei die kleinen Seelen aus dem Leib, Jugendliche setzen mit dröhnendem Rap und Hip-Hop akustische Duftmarken, und ab und zu ertönt das Sirren einer Drohne oder das rhythmische Tackern von Nordic-Walking-Stöcken – beinahe eine Wohltat nach all den nervenaufreibenden Klang-Kaskaden zuvor.
Gegen 18 Uhr rollt schließlich die feierabendliche Lärmwelle heran. Auf Balkonen und Terrassen wird gegrillt, während Gute-Laune-Rhythmen aufs Trommelfell prasseln. So wie die Schattenlänge bei sinkender Sonne wächst auch die Ungeduld der wenigen Störanfälligen, die der Welt gern sofort den Ton abdrehen würden.
Der letzte Fensterladen rumpelt gegen ein Uhr zu, und irgendwann in der Nacht erregen noch einige krawallige Mopedfahrer, die Durchfahrtsverbote missachten, Aufmerksamkeit: Hört mal, wie schön unsere getunten Auspuffanlagen knattern!
Alles Elend der Menschen rührt von ihrer Unfähigkeit, allein in einem stillen Raum zu sitzen, wusste schon der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal. Es gab aber mal Zeiten, da hatte sich diese Erkenntnis auch weithin herumgesprochen.
Da hielt man mittags und in der Nacht Ruhestunden ein, da hatten sich Spielplätze noch nicht mittels Bluetooth-Lautsprecher in Freiluft-Diskotheken verwandelt und man tat der Umwelt auch nicht mit unentwegt plärrenden Handys Gewalt an.
Von allein kommen heute anscheinend nur noch wenige Menschen darauf, dass andere Stille brauchen könnten, dass äußere Ruhe nötig ist, um ins Innere zu gelangen, und dass sie lebenswichtig ist für alle, die nicht nur am Leben draußen teilhaben wollen. Vermutlich ist das Innere vieler Menschen mittlerweile schon ebenso laut und chaotisch wie ihre Umgebung.
Oh, du ruhige Corona-Zeit
Ausgerechnet die Corona-Pandemie weckte bei Lärmgeplagten neue Hoffnungen. Der Flug- und Straßenverkehr wurde stark beschränkt oder ganz eingestellt. So legte sich eine völlig ungewohnte Ruhe über das Land und ließ die Menschen in eine Zeit vor der industriellen Revolution horchen.
Zahllose Zeitungsartikel klärten in den folgenden Wochen darüber auf, welche heimischen Vogelarten wir da plötzlich wieder hören konnten. Allerdings wuchs in dieser Zeit nicht allein die Freude am amselumflöteten Homeoffice, auch die Beschwerden wegen zu lauter Nachbarn nahmen erheblich zu, und manch einer erinnerte sich auch wieder an das elfte Gebot.
Wie war das noch gleich?
Das hatte der vergessliche Gott des Alten Testaments seinem Knecht Moses leider nicht mitgegeben, bevor dieser den Berg Sinai wieder hinabgestiegen war. Ersatzweise beauftragte er einige Zeit später deshalb den deutschen Schriftsteller Robert Gernhardt damit, dieses Gebot unter die Menschheit zu bringen, auf das es fortan der akustischen Notwehr und der Wahrung des Friedens diene. Es lässt sich ganz leicht merken: „Du sollst nicht lärmen!“