Frau Pietrow-Ennker, der Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sagt: Die Ukraine sei zwar mit Russland eng verflochten, aber ein Kosmos für sich. Teilen Sie diese Definition?

Die Geschichte der Ukraine ist hochkompliziert. Wir haben uns daran gewöhnt, dieses Land in seiner historischen Entwicklung Russland zuzuordnen. In Wahrheit geht die ukrainische Geschichte zurück auf ein großes Reich im Mittelalter, die „Kiewer Rus“.

Kiew war im 11. Jahrhundert eine der größten Städte Europas und bedeutendes Handelszentrum zwischen Skandinavien und Byzanz. Dementsprechend hatte sich dort eine hohe ostslawische Kultur entwickelt, die aufs Engste mit der Christianisierung durch Byzanz zusammenhing.

Was bedeutet „Rus“?

Dieser Begriff ist umstritten, er kommt aber offensichtlich aus dem Skandinavischen und meint „rudernde Männer“. Bezeichnet wurden so die Waräger, die auf dem Fluss Dnjepr den Weg nach Byzanz suchten und dabei am Ufer Herrschaftssitze errichteten. Mit der Zeit verschmolzen sie mit der ansässigen Bevölkerung.

Bei „Rus“ denkt man gleich an „Russland“!

Ja, später wurde das in diesem Raum übernommen. Aber die Anfänge sind allgemein ostslawisch, das Herz dieser Entwicklung war Kiew. Das muss ich deshalb betonen, weil Russland diese Geschichte für sich verbucht.

Das Territorium des Kiewer Rus zerfiel später in einzelne Fürstentümer: die Fürstentümern Galizien und Wolhynien wandten sich dem Westen, dem Großfürstentum Polen-Litauen zu. Kulturell durchdrungen wurde diese Region dadurch und später dann vom Habsburger Reich. Der Norden und Osten dagegen fielen im weiteren Geschichtsverlauf in den Herrschaftsbereich des russischen Imperiums.

Bianka Pietrow-Ennker ist emeritierte Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz.
Bianka Pietrow-Ennker ist emeritierte Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz. | Bild: privat

Wie fanden die beiden Teile wieder zueinander?

Das geschah Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der zweiten polnischen Teilung 1793 unter der russischen Kaiserin Katharina der Großen. Russland verleibte sich die links- und rechtsufrige Ukraine ein – vom Dnjepr aus gesehen.

Wenn sich der heutige Staatspräsident Wladimir Putin also auf die Geschichte bezieht, meint er genau diese Zeit: Katharina die Große hatte bereits bei der Eroberung des ostukrainischen Territoriums von „Neurussland“ gesprochen, dieses Vokabular benutzt Putin in den letzten Jahren, um Anspruch auf dieses Gebiet zu erheben.

Putin unterschlägt also, dass es bereits vor Katharina eine unabhängige Ukraine gegeben hat?

Der Begriff „Ukraine“ ist politisch gesehen ein später Ausdruck der Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert. Davor wurde der Begriff seit dem 12. Jahrhundert territorial gebraucht, die Herrschaftsgebiete waren hauptsächlich imperial verortet. Das macht es so schwer, die Geschichte der Ukraine zu verstehen: Anders als etwa bei Polen haben wir es hier nicht mit einem durchgängigen Staat zu tun.

Die Ukraine hat in unterschiedlichen territorialen Räumen und nationalen Identitäten existiert, vom Kiewer Reich über die Zeit von Galizien-Wolhynien, in Gestalt einer Kosaken-Republik bis hin zur russischen, polnischen, sowjetischen und heutigen Zeit.

In seiner Rede vom 21. Februar sprach Putin von der Ukraine als einem „unveräußerlichen Teil der russischen Geschichte, Kultur und Religion“.

Diese Formulierung ist keine Geschichtsbetrachtung, sondern eine Waffe des Propagandakriegs. Korrekt müsste es heißen: der ostslawischen, denn aus dem Ostslawentum entwickelten sich das russischen, belarussischen und ukrainische Volk.

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Weil die These einer rein russischen Identität nicht stimmt?

Ja, und man muss noch ergänzen: Bereits im 19. Jahrhundert flammte die ukrainische Nationalbewegung auf und hatte vor allem im österreichischen Teilungsgebiet gute Entwicklungsbedingungen.

Schon im Januar 1918 entstanden als Folge der Politisierung der Nationalbewegung im Zentrum der heutigen Ukraine zwei Volksrepubliken, die sich kurz darauf vereinigten. Allerdings wurden sie sofort bekämpft. Im Osten marschierte die Rote Armee ein, im Westen beanspruchte Polen die Gebiete für sich.

Putin sagt, die moderne Ukraine sei von einem „bolschewistischen, kommunistischen Russland erschaffen“ worden.

Die Wahrheit ist, dass die Rote Armee das Territorium eroberte und die souveränen Regierungen ins Exil trieb. Putin ignoriert vollkommen die ukrainische Nationalbewegung, die schon im 19. Jahrhundert die ukrainische Schriftsprache, Kunst, Musik und Literatur erschaffen hat. Das alles begründet ja nicht nur kulturelle, sondern auch politische Identität.

Warum konnte sich diese nicht entfalten?

Im habsburgischen, also westlichen Teil entstanden schon bald Bildungsgesellschaften, die Intelligenz und Volk miteinander verbinden wollten. Im russischen Teil dagegen dominierte bald ein starker russischer Nationalismus, der eigenständige ukrainische Entwicklungen zu unterbinden versuchte.

So war zum Beispiel die Verwendung ukrainischer Schriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr erlaubt, die Sprache wurde als Bauerndialekt abqualifiziert. Man tat alles dafür, um den Mythos aufrecht zu erhalten, es handele sich bei Russen und Ukrainern um ein und dasselbe Volk.

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Sie haben von der ukrainischen Kultur gesprochen. Wir alle kennen große russische Künstler wie Tolstoi, Kandinsky, Tschaikowsky. Bei ukrainischen Namen dagegen müssen die allermeisten Deutschen passen. Warum?

Weil wir uns gerade auch wegen der engen Wirtschaftsbeziehungen schon immer sehr stark an Russland ausgerichtet haben. Natürlich hat dieses Imperium großartige Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht. Ähnliches gilt aber auch für die Ukraine. Diese Bildungslücke erstreckt sich auch auf andere bedeutende Nationen im Osten Europas. Fragen Sie zum Beispiel mal junge Deutsche nach führenden polnischen Dichtern, Malern und Komponisten.

Putin sieht in der Ukraine ein bolschewistisch-kommunistisches Kunstgebilde, nennt es „Lenins Ukraine“...

Er zitiert Lenin und Stalin in völlig falschen Kontexten. Es hatte zu dieser Zeit einen blutigen Bürgerkrieg gegeben, weil Ukrainer, Belarussen, Tataren, Georgier und andere Völker im Raum des russischen Imperiums für ihre Freiheit kämpften. Hinzu kam große materielle Not.

Vor diesem Hintergrund musste Lenin die Nationalitäten für sich gewinnen, um das Reich zusammenzuhalten. Schließlich sollte von diesem Territorium eine sozialistische Weltrevolution ausgehen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als Zugeständnisse an die Nationalitäten zu machen.

Wie muss man sich heute die kulturelle Lage in der Ukraine vorstellen? Die Amtssprache ist ukrainisch: Wird sie auch von der Mehrheit im Alltag gesprochen?

Ja, selbstverständlich. Man sollte aber bedenken: Unter Katharina der Großen begann eine systematische Bevölkerungspolitik, die sich noch bis zum Ende der Sowjetzeit fortgesetzt hat, und zwar die Ansiedlung von Russen in dieser Region. Deshalb ist es kein Wunder, dass dort heute auch russisch gesprochen wird.

Einer Statistik aus dem Jahr 2001 zufolge sind rund 68 Prozent der Bevölkerung ukrainische Muttersprachler, etwa 30 Prozent geben Russisch an. Allerdings gibt es auch ethnisch gemischte Familien und viele Ukrainer, die in der Sowjetzeit russischsprachig aufgewachsen sind: so Präsident Wolodymyr Selenskyi. Multikulturalität ist ein Kennzeichen der Ukraine.

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Putin scheint sich ja als Hobbyhistoriker zu betätigen. Angesichts der von Ihnen benannten historischen Fehlschlüsse: Liest er die falschen Bücher?

Ich gehe davon aus, dass er sich von seinen Hofhistorikern Geschichte so zusammenklittern lässt, dass seinem Eroberungsfeldzug eine kulturelle Dimension verliehen wird. Die Geschichtsmythen werden zudem im Bildungssystem verankert, sie finden Eingang in die Lehrbücher von Schulen und Universitäten.

Schülern und Studenten werden in Russland also ganz bewusst Lügen aufgetischt?

Ja, es sind Verdrehungen und ideologische Konstrukte, die auch im Widerspruch zur bisherigen russischen Wissenschaft stehen. Wir haben ja eine wunderbare deutsch-russisch-ukrainische Wissenschaftsgemeinschaft, lebendige Universitätspartnerschaften. Dies alles wird jetzt zunichte gemacht.

Es gibt bereits Gesetze, die die freie Forschung und Meinungsäußerung kriminalisieren. Eine neue Verordnung soll im russischen Parlament verabschiedet werden, nach der es bis zu 15 Jahre Haft für Darstellungen vom gegenwärtigen Ukrainekrieg geben soll, die von der offiziellen Interpretation abweichen.

Was sagen Ihre russischen Kollegen dazu?

Die einen sagen nichts mehr, weil sie einfach nur noch Angst haben. Die anderen sind gefährdet: nicht nur beruflich, sondern auch existenziell.