Herr Schischkin, Sie leben als Journalist und Schriftsteller seit den 1990er-Jahren in der sicheren Schweiz. Wann waren Sie zum letzten Mal in ihrer Heimat?
2014 im Herbst, da war bereits der Krieg im vollen Gange. Vorher war ich immer mit einem Fuß in Moskau. Danach wollte ich nicht mehr nach Russland. Der heutige Krieg begann damals. Ich bin Russe. Im Namen meines Volkes, im Namen meines Landes, in meinem Namen hat Putin ein fürchterliches Verbrechen begangen. Ich empfinde Scham und Schuld. Ich will die Ukrainer um Verzeihung bitten. Aber das kann man nicht verzeihen.
Als einziger russischer Autor wurden Sie mit den drei wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet. Ihre Bücher sind dort Bestseller. Russland liegt Ihnen immer noch am Herzen?
Selbstverständlich habe ich Heimweh. Aber nach welchem Russland? Nach dem Geruch des Staatsstiefels habe ich keine Sehnsucht. Ich habe Heimweh nach einem anderen Russland. In meinem offenen Brief noch vor der Krim-Annexion verzichtete ich darauf, Putins Russland auf den internationalen Buchmessen zu präsentieren, und schrieb: „Ich will und werde ein anderes, mein Russland vertreten, ein von den Usurpatoren befreites Land, ein Land, dessen Behörden nicht das Recht auf Korruption schützen, sondern die Rechte des Individuums, ein Land mit freien Medien, freien Wahlen und freien Menschen.“
Als politischer Kommentator werden Sie in Ihrer Heimat dagegen keinen Blumentopf ernten. Das Russland unter Präsident Wladmir Putin nannten Sie 2018 eine Diktatur, Sie forderten den Boykott der Fußball-WM und stattdessen Solidarität mit den „Geiseln der Diktatur“.
Was kann ein Schriftsteller machen? Nur klare Worte sagen. In meinem Buch „Frieden oder Krieg, Russland und der Westen“, welches ich im Dialog mir dem deutschen Journalisten Fritz Pleitgen geschrieben habe, erkläre ich, warum diese Ukraine-Krise historisch unausweichlich ist und was auf uns in der absehbaren Zukunft nach diesem für Russland katastrophalen Krieg und nach Putin zukommt. Wenn man in die Geschichte schaut, kann man gut verstehen, wohin die historische Reise geht.
Die Russische Föderation in den heutigen Grenzen wird es auf der Karte nicht mehr geben. Der Zerfall des Imperiums wird fortgesetzt. Den Tschetschenen werden andere Völker und Regionen in die Unabhängigkeit folgen. Die Machtkämpfe und die Angst vor der Anarchie, die wir in den 90er-Jahren erlebt haben, werden das Verlangen der Bevölkerung nach der Ordnung und der „starken Hand“ nur bekräftigen. Der mögliche Kontrollverlust über die Nuklearwaffen wird den Westen entsetzen. Deshalb werden die demokratischen Staaten auch eine neue russische Diktatur begrüßen, die diese Kontrolle verspricht.
Seit Donnerstag hat Putin wahr gemacht, was der Westen kaum glauben wollte. Er hat die Invasion der Ukraine befohlen. Was ging in Ihnen vor, als Sie diese Nachricht erhielten?
Ich war entsetzt. Blankes Entsetzen. Zwar hatte man das jahrelang erwartet, aber man hatte immer den Gedanken: Das wird nie passieren, weil das einen Selbstmord für das Regime bedeutet. Dabei sollten weder der Zeitpunkt noch die Heftigkeit überraschen. Die biologische Uhr tickt. Bei den Diktatoren geht die Zeit anders. Sie haben keine Zukunft.
Putin hat das Völker- und Menschenrecht eklatant verletzt, die weltliche Welt ist entsetzt, aber seine „Parlamentarier“ stärken ihm den Rücken. Und auch das Volk scheint hinter ihm zu stehen, glaubt man den Umfragen…
Da zitiere ich die berühmte letzte Zeile des historischen Dramas „Boris Godunow“ von Puschkin: „Das Volk schweigt“. Warum? An der KGB-Schule hat Putin gelernt: Erpressung und Angst machen Wunder mit Menschen. Es sind die Überlebenserfahrungen über Generationen hinweg: Schweigen ist sicherer. Eine eigene Meinung zu äußern, kann Probleme bringen. Die Macht hat immer recht. Die Macht hängt nicht von der Meinung der Bevölkerung ab, sie ist einfach da oben, und man muss gehorchen, egal welcher Befehl kommt. Das macht den russischen Zaren sakral. Und wer widerspricht, wird ermordet, wie Nemtzow, oder landet im Gefängnis, wie Alexei Navalny und Hunderte politische Häftlinge. Oder in der Emigration.
Die ältere Generation sitzt bis jetzt fest unter dem Hammer des putinschen Fernsehens. Die sind überzeugt, dass der Westen Russland überfallen wird, deshalb müssen wir wieder die Heimat verteidigen, wie unsere Großväter dies tun mussten. Der Satiriker Kosma Prutkow sagte im 19. Jahrhundert: „Ein Mensch gleicht einer Wurst – womit du ihn füllst, das wird er werden.“
Es gibt keine Opposition in Russland beziehungsweise sie wird systematisch unterdrückt, ihre Repräsentanten von Richtern verurteilt, die allein den Machthabern dienen und nicht dem Gesetz, manche kalt umgebracht. Wie konnte es soweit kommen? Noch unter Präsident Medwedew hatten Sie selbst Hoffnung auf ein „anderes Russland“…
Russland hat in den letzten 30 Jahren mehr in westliche Immobilien, Villen, Fußballclubs und Jachten investiert als in das eigene Medizin- und Bildungswesen. Und was meinen wir, wenn wir Russland sagen: die regierende Mafia oder die vergewaltigte Bevölkerung? Einfache Leute würden sich lieber an einer florierenden Wirtschaft erfreuen, aber das korrupte Regime hat das für sie nichts im Angebot. Im Angebot stehen nur Feinde aus dem Westen und die Verteidigung der „russischen Werte“. Darunter verstehen die Okkupanten im Kreml sich selbst und ihre eigene Macht.
Der Westen hat zu- oder weggeschaut. Hierzulande war man mehr an Gas-
importen interessiert als an Kritik an einem autoritären Regime, das die Rechte des Individuums mit den Füßen tritt, freie Medien verhindert und Wahlen offenkundig manipuliert.
Der Westen hat jetzt erst gemerkt, dass er mit Russland im Krieg ist. Umgekehrt ist Russland aber bereits seit Jahren im Krieg gegen den Westen. Der Plan sieht nur den Sieg vor: Putin wird die Einsätze in diesem tödlichen Pokerspiel so lange erhöhen bis der Westen nachgibt. Will die Nato wirklich wegen der Ukraine die Welt im nuklearen Inferno verrecken lassen? Die russischen Generäle sind sich sicher, dass die westlichen Demokratien die Ukraine früher oder später verraten werden. Ich fürchte, das stimmt.
Die Nato wird sich militärisch nicht einmischen. Die Frage ist, wann die westlichen Politiker bereit wären, auf den roten Knopf zu drücken. Putin glaubt, dass sie das nie machen werden. Er hat ja Erfahrungen mit Südossetien, Abchasien und der Krim gemacht. Der Mann hat genug demokratische Staatsoberhäupter gesehen. Heute bist Du Kanzler Deutschlands, morgen Putins Lakai.
Andererseits: Hätte der Westen, der sich in der Nato verbündet hat, das „Sicherheitsinteresse“ Russlands ernster nehmen müssen? Das ist ein Vorwurf, den die Linke der Politik macht.
Jetzt ist es allen klar geworden, hoffentlich auch „Putinverstehern“, dass die Osterweiterung der Nato das Leben der baltischen Republiken gerettet hat. „Sicherheitsinteressen“ Russlands sind nur ein Vorwand. Wie konnte man den Worten Putins glauben? Die Wörter ernst zu nehmen, das ist eine westliche Tradition, die noch vom Protestantismus herrührt. Doch die Wörter bedeuten in der russischen Welt nichts. Wir alle – Putin und seine Landsleute – wuchsen im Land der großen Lügen auf. In Russland liest man zwischen den Zeilen. Da sehen wir einen paranoiden Mann, der bereits vor Jahren vor seinem Waldai-Klub scherzte: Im Falle eines nuklearen Krieges „werden wir ins Paradies kommen, und sie werden einfach verrecken.“