Ohne Verflechtung von Künstler, Werk und Welt ist Kunst nicht zu haben. Und doch gibt es Situationen, in denen dieses Geflecht sorgsam entwirrt, das eine vom anderen unterschieden und aufmerksam seziert gehört.
Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar ist die Welt eine andere geworden. Beim Blick in einen nuklearen Abgrund werden vermeintlich private Angelegenheiten der persönlichen Weltanschauung politisch relevant.

Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Stadt München, hatte deshalb am Wochenende dem Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Waleri Gergijew, ein Ultimatum gestellt. Bis Montag sollte dieser sich „eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere auch gegen unsere Partnerstadt Kiew führt“. Andernfalls: auf Wiedersehen. Auch die Mailänder Scala und das Festspielhaus Baden-Baden forderten den Maestro auf, sich von Putin loszusagen. Inzwischen steht fest: Bei den Münchner Philharmonikern er bereits gefeuert, das Ultimatum ließ er untätig verstreichen.
Enger Freund Putins
Gergijew gilt als Experte für das russische Orchesterrepertoire. Zugleich ist er enger Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin, unterstützte ausdrücklich die Annexion der Krim. Wer den Schulterschluss mit einem Kriegsverbrecher übt, dem hilft kein noch so herausragendes Gespür für Tschaikowskys Klangsprache aus der Klemme. Mögen die musikalischen Fähigkeiten des Maestros auch herausragend sein: In Zeiten der realen Gefahr eines Atomkriegs, möchte man meinen, ist so jemand am Pult weder Orchestermusikern noch deren Publikum zumutbar.
In Zürich sieht man solche Dinge offenbar anders. Am Wochenende befragte die Neue Zürcher Zeitung die Intendanz des Opernhauses zu ihrer Haltung bezüglich Anna Netrebko. Die russische Star-Sopranistin und Freundin Putins soll dort in Verdis Oper „Macbeth“ auftreten. Antwort: Man wisse es nicht recht und abgesehen davon sehe man auch gar keine Grundlage, sich bei ihr zu erkundigen.

Netrebko selbst – 2014 posierte sie mit der Flagge der ostukrainischen Separatisten – rang sich schließlich ein gequältes Statement ab. Irgendwie sei sie zerrissen, weil sie ihre Heimat liebe, aber zugleich in der Ukraine Freunde habe, Krieg sei natürlich falsch und sie sei ja eher für Frieden. Im gleichen Atemzug empörte sie sich über die Ungehörigkeit, als Künstlerin „gezwungen“ zu werden, ihr „Vaterland zu beschimpfen“. Sie sei nun mal „keine politische Person“ oder „Expertin für Politik“.
Die rhetorischen Windungen erinnern in fataler Weise an die Ausreden von Kulturkollaborateuren totalitärer Regime in der Vergangenheit. Nach seiner Rolle in der Nazi-Propaganda gefragt, erklärte etwa der Schauspieler und Sänger Johannes Heesters einmal: Für Politik habe er schlicht keine Zeit gehabt.
Politik als Hobby?
Politik als skurriles Hobby für „Experten“, dem man sich mangels Interesse ebenso gut entziehen kann wie dem Briefmarkensammeln oder der Taubenzüchterei? Diese Vorstellung mag in unkomplizierten Zeiten noch als naiv durchgehen, am Rande eines möglichen Weltkriegs darf sie auf keine falsche Toleranz stoßen.
Politik, das ist gemäß ihrer Wortbedeutung alles, was das Zusammenleben betrifft, seine Ordnung, seine Führung, seine Organisation. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wer sich explizit zum Unpolitischen bekennt, sagt nichts weniger als sein Desinteresse an der Gesellschaft, an seinem Nachbarn, am Menschsein selbst. Er ist buchstäblich unsozial.
Theater, Opernhäuser und Museen müssen deshalb auf unmissverständliche Stellungnahmen zu den Ereignissen in der Ukraine bestehen. Und wer mit einer angemessenen Einordnung des ersten europäischen Angriffskriegs seit Hitlers Polen-Feldzug erkennbare Probleme hat, ist auf steuerfinanzierten Bühnen nicht vermittelbar.
Russischen Kulturschaffenden, die für Putins machtpolitische Vereinnahmung schon bislang nicht zugänglich waren, fällt dies auch gar nicht schwer. Kirill Petrenko etwa, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, spricht von einem „heimtückischen und völkerrechtswidrigen Angriff“ und „Messer in den Rücken der ganzen friedlichen Welt“.
Es geht um Leben und Tod
Künstler, Werk und Welt: In der Kunst sind sie notwendigerweise miteinander verflochten, und aus geringen Anlässen sollte man auch gar nicht damit beginnen, dieses Gesamtbild zu zerlegen. Wollte man alle Kunst an der politischen Haltung ihres jeweiligen Schöpfers bemessen, gäbe es kaum mehr etwas zu lesen, zu sehen oder zu hören. Das trennscharfe Sezieren von Person, Überzeugung und Werk, das Infragestellen von Kunst aufgrund einer bestimmten politischen Haltung muss dem Extremfall vorbehalten sein. Wenn es um Krieg und Frieden geht, um Leben und Tod.
Aus diesem Grund sollte sich der Kulturbetrieb die Frage stellen, ob er solche Umstände in der Vergangenheit nicht allzu leichtfertig beschworen hat. An deutschen Theatern hatten sich Künstler zuletzt wegen Vorfällen zu erklären, die im Lichte der aktuellen Ereignisse wie Micky Maus anmuten.
Da war der Fall des Regisseurs, der einen Schauspieler – wie bei Proben absolut üblich – statt seines Namens mit seiner Rollenbezeichnung (in diesem Fall: „Sklave“) gerufen haben soll. An einem anderen Haus wurde ein renommierter Spielleiter gefeuert, angeblich weil er bei der Probenarbeit als Beispiel für menschliche Stresssituationen eine Löwenbegegnung in Afrika anführte. Kleinigkeiten wie eine flüchtige Äußerung, ein missglücktes Beispiel mündeten in Forderungen nach öffentlicher Abbitte, Klarstellung, Entschuldigung.
Die aktuellen Ereignisse könnten vor diesem Hintergrund geeignet sein, die Unterscheidung von vermeintlichen und tatsächlichen Bedrohungen wieder zu schärfen. Gut möglich also, dass die Zeit der Selbstbeschäftigung mit Mikroaggressionen schon bald vorbei ist. Es gibt wieder echte Aggression.