Am Ende, schreibt Tobias Engelsing, habe es nur noch Opfer gegeben. Der millionenfache Mord, die unrechtmäßigen Enteignungen, der verheerende Krieg: niemand mehr da, der für die Verbrechen des NS-Regimes verantwortlich zeichnete. Zum rettenden Status des Mitläufers verhalf im Zweifel die Erklärung, von Hitler „verführt“ worden zu sein.

Heute gilt die Legende von den verführten Deutschen als ebenso überholt wie ihr zwischenzeitlich propagiertes Gegenteil, der Mythos vom kollektiv schuldhaften „Tätervolk“. Die Begriffe Schuld und Unschuld eignen sich nicht zur pauschalen Beurteilung ganzer Gesellschaften. Aber eignen sie sich für den einzelnen Menschen?

Tobias Engelsing, Historiker und Leiter der Konstanzer Museen, ist Sohn eines Mannes, dessen Biografie in Zeiten leichtfertiger Zuschreibungen von Täter- und Opferrollen eine Herausforderung darstellt.

Tobias Engelsing leitet die vier Konstanzer Museen.
Tobias Engelsing leitet die vier Konstanzer Museen. | Bild: Hanser, Oliver

Herbert Engelsing war nämlich ein hohes Tier der reichsdeutschen Filmindustrie und damit auch eingebunden in die Nazi-Propaganda. Zugleich jedoch unterstützte er die lange als kommunistisch eingestufte Widerstandsbewegung „Rote Kapelle“, trotzte den Nürnberger Rassegesetzen, half bedrängten Künstlern.

Ein solches Leben verstehen zu wollen, bedeutet, die Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens zu akzeptieren. Für einen Autor, der aus Perspektive des Sohnes auf dieses Leben blickt, ist das keineswegs ein Leichtes. Tobias Engelsing gibt zu: Er habe Zweifel gehabt, ob er zu einer wahrhaftigen Annäherung an den Vater überhaupt in der Lage sei, zu einer Biografie also, die weder verklärt noch dämonisiert, nicht entschuldigt, aber auch nicht freispricht.

Doch jetzt liegt das Buch vor (“Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet“, Propyläen), in einer Detailfülle und Recherchetiefe, die vom Willen zu unparteiischer Wahrheitssuche durchdrungen ist. Von einer Suche, die früh zu überraschenden Entdeckungen führt.

Tobias Engelsing: „Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet – Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand“, ...
Tobias Engelsing: „Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet – Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand“, Propyläen 2022; 448 Seiten, 25 Euro. | Bild: Ullstein

Zum Beispiel zu einer Fotografie aus dem Jahr 1922, die man ohne Weiteres auf die späten 60er-Jahren datieren würde. Zu sehen ist die Familie bei Kaffee und Kuchen, biedere Sonntagsidylle im heimischen Garten. Nur der 18-jährige Herbert – ein früher Mick Jagger mit wirrem Haar und modischem Anzug – blickt so demonstrativ abgetörnt in die Kamera, als gehöre er eigentlich auf die Vietnamkriegsdemo statt in die kleinbürgerliche Provinz. In Schulaufsätzen gibt er den flammenden Demokraten mit rebellischem Duktus. Dass so einer mal NS-Propagandafilme produzieren würde: unvorstellbar.

Auf ein mit Bestnoten abgeschlossenes Jurastudium folgt der glänzende Start ins Berufsleben als Richter. Die Vorgesetzten kriegen sich kaum ein vor Begeisterung über den aufstrebenden Kollegen. An dessen Mitgliedschaft im links orientierten Republikanischen Richterbund stört sich niemand. Noch.

Herbert Engelsing mit seinem Bruder Erich, 1925 im Garten seiner Eltern.
Herbert Engelsing mit seinem Bruder Erich, 1925 im Garten seiner Eltern. | Bild: archiv Engelsing

Mit der Machtergreifung der NSDAP ändert sich die Lage dramatisch. Richter mit demokratischer Gesinnung können die Nazis nicht brauchen, und so sieht sich der eben noch gefeierte Jurist gezwungen, einen neuen Job zu finden. Der Tobis-Filmkonzern, international aufgestellt, scheint ihm politisch unverdächtig zu sein, als Syndikus kümmert er sich hier um Lizenzverträge und wettbewerbsrechtliche Streitfälle. Doch allmählich wird klar: Politisch unverdächtig ist nichts mehr, schon gar nicht die Filmindustrie.

Arbeiten für Goebbels

Der Tobis-Konzern ist längst dem Propagandaminister Joseph Goebbels unterstellt, jüdische Mitarbeiter werden eilends vor die Tür gesetzt. Da tun sich Karrierechancen auf, denn irgendwie müssen die frei gewordenen Stellen ja besetzt werden: Sollte Engelsing dankend ablehnen?

Vieles spricht dagegen. Seine Verlobte zum Beispiel gilt nach der kruden Definition der Rassegesetze als „Halbjüdin“, die Beziehung ist nach gängiger Rechtsauslegung eigentlich verboten. Umso wichtiger wären gute Beziehungen in die Parteiführung.

Herbert Engelsings erste Ehefrau Inge Kohler: Das Foto trug er bis zu seinem Lebensende stets bei sich.
Herbert Engelsings erste Ehefrau Inge Kohler: Das Foto trug er bis zu seinem Lebensende stets bei sich. | Bild: Archiv Engelsing

Der Spitzenjurist Hans Globke, der nach dem Krieg unter Adenauer noch Kanzleramtschef werden soll, war an der Ausarbeitung der Rassegesetze beteiligt. Jetzt hilft er dem alten Schulfreund aus Aachener Zeiten bei der Beschaffung einer Ausnahmebewilligung für die geplante Hochzeit. Dessen hohe Stellung in der Filmindustrie wird dabei von Bedeutung gewesen sein.

So wird aus dem flammenden Demokraten ein angepasster Mitmacher – jedenfalls nach außen. Das Innere bekommen nur ausgewählte Freunde aus der Kulturszene zu Gesicht. Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure besuchen den mächtigen Produzenten nach Dreharbeiten in seiner Villa im Berliner Nobelvorort Grunewald. Bei Salat und badischem Wein riskiert man offene Worte über die politischen Verhältnisse.

Herbert Engelsing beim Segeln mit Libertas Schulze-Boysen: Als Mitglied der sogenannten „Roten Kapelle“ wurde sie 1942 ...
Herbert Engelsing beim Segeln mit Libertas Schulze-Boysen: Als Mitglied der sogenannten „Roten Kapelle“ wurde sie 1942 hingerichtet. | Bild: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Nein, es ist keine Heldengeschichte, die hier beginnt. Zu nervös beobachtet Engelsing, wie sich aus der losen Gesellschaft allmählich aktiver Widerstand herausbildet, der antifaschistische Flugblätter unters Volk bringt. Zu sehr ist er auf seine eigene Sicherheit bedacht, darauf, nicht zu tief mit hineingezogen zu werden. Und doch: Er stellt sein Haus für konspirative Treffen zur Verfügung, knüpft wichtige Kontakte, geht allein schon durch seine Mitwisserschaft ein hohes Risiko ein.

Der Ehrgeiz will beruflichen Erfolg, die Angst fordert größtmögliche Sicherheit, die Liebe hängt an Zugeständnissen. Und das Gewissen? Hofft durch eine Doppelstrategie zur Ruhe zu kommen. Vergeblich. Von einer „zwischen Angst und Courage schwankenden Spannung“ sei er getrieben, heißt es.

Es ist die Spannung eines Überlebenskünstlers, nicht die eines Widerstandskämpfers. Ziel ist, das Unrecht physisch zu überleben und dabei dennoch in den Spiegel schauen zu können.

Der Autor Tobias Engelsing und sein Vater, in einer Aufnahme von 1961: Herbert Engelsing starb nur 16 Monate nach Geburt seines jüngsten ...
Der Autor Tobias Engelsing und sein Vater, in einer Aufnahme von 1961: Herbert Engelsing starb nur 16 Monate nach Geburt seines jüngsten Kindes. | Bild: Archiv Engelsing

Am Beispiel seines Vaters erzählt Tobias Engelsing vom Leben in einer Diktatur abseits einfacher Rollenzuschreibungen. Zum Vorschein kommt dabei eine verunsicherte Gesellschaft, deren Gefügigkeit sich gerade nicht aus Ansagen von oben erklärt, sondern aus einer ständigen Ungewissheit über die jeweils angemessenen Handlungsoptionen.

Schuld und Unschuld liegen bisweilen verdammt nah beieinander, selbst ein vermeintlich klarer Fall wie Hans Globke fängt bei näherer Betrachtung zu oszillieren an. Und die heute gefeierten Regimegegner galten in der Nachkriegszeit als höchst verdächtige Subjekte: Dabei war ihre Begeisterung für den Sozialismus allein der Tatsache geschuldet, dass Stalin lange Zeit schlicht die einzige realistische Alternative zu Hitler darstellte.

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Die Symbiose aus gründlicher Recherche, kritischer Distanz und gleichwohl persönlichem Ton macht aus der Lektüre ein Erlebnis. Selten kam uns die Brüchigkeit des Lebens im Dritten Reich so nah wie in diesem beeindruckenden Stück Zeitgeschichte.

Das gilt auch für die Nachkriegszeit, als die so erfolgreich eingeübten Strategien sich plötzlich als nutzlos erweisen. Hilflos muss der Überlebenskünstler mit ansehen, wie seine Familie zerbricht: Wer lernt, eine Diktatur zu überstehen, der ist für die Freiheit noch lange nicht gerüstet.