In den 1970er-Jahren, als die Studentenrevolte hierzulande in Terrorismus umschlug, hochrangige Vertreter von Staat und Wirtschaft in Kellern verschwanden oder gleich erschossen wurden und ahnungslose Urlauber sich unversehens auf einem somalischen Rollfeld in Geiselhaft wiederfanden: Da schien die Schweiz, wie so oft, eine Insel der Seligen zu sein.
Zwar hatte der internationale Terrorismus bereits Ende der 1960er-Jahre kurz auch am Zürcher Flughafen vorbeigeschaut. Doch die Anschlagserie auf Passagierflugzeuge endete so abrupt wie rätselhaft.
Politische Landschaftspflege der anderen Art
Bis heute halten sich Vermutungen, wonach die Schweizer Regierung ein geheimes Abkommen mit der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geschlossen haben könnte. Sie würden erklären, warum sich die Schweiz fortan für eine diplomatische Anerkennung der PLO einsetzte – und von weiteren Terror-Akten verschont blieb.
Typisch Schweiz, so möchte man meinen: Wo andernorts Sondereinheiten mit Blendgranaten und Maschinengewehren gekaperte Flugzeuge stürmen, betreibt man im Alpenland geräuschlos politische Landschaftspflege. Schon bald strahlt wieder die Sonne über der Idylle, und niemand weiß so recht, warum eigentlich.
Verfilmen? Lieber nicht!
Der Schriftsteller Daniel de Roulet (77) hat jetzt über die Schweiz in der Hochphase des Terrorismus einen Roman geschrieben (“Staatsräson“, Limmat-Verlag). Um zu erkennen, dass die Schweizer Kunst des magischen Verschwindenlassens jeglicher Unbill darin aufs Schönste zur Geltung kommen dürfte, braucht man ihn nicht einmal zu lesen.
Es genügt bereits die Geschichte seiner verhinderten Verfilmung. Für die benötigte Förderung, so berichten Schweizer Medien, sei dem zuständigen Kultur-Bundesamt nämlich die Vermischung von Fiktion und Wahrheit zu heikel erschienen: Die Geschichte könne „zu falschen Schlüssen verleiten“!

Bessere Werbung als solche Vorbehalte kann sich ein Autor kaum wünschen. Doch wer sich von der Lektüre des Romans spektakuläre Enthüllungen erhofft, sieht sich enttäuscht. De Roulet lässt die entscheidenden Fragen – notgedrungen – offen. Interessant ist seine Erzählung trotzdem, weil sie die Schweizer Stimmungslage jener Zeit beschreibt und dabei historische Aspekte aufgreift, die diesseits der Grenze kaum bekannt sind.
Das gilt insbesondere für den vom Autor unternommenen Brückenschlag zwischen Roter Armee Fraktion und der „Groupe Bélier“. Wer heute nach Informationen zu dieser Schweizer Bewegung sucht, stößt auf Aktionen von vergleichsweise mäßiger Härte: hier ein beschädigtes Denkmal, dort ein gestohlenes Wahrzeichen.
Als der Kanton Jura gegründet wurde
Doch die hinter den begangenen Taten stehende Motivation wirkte womöglich nachhaltiger auf die politische Realität ein, als es die RAF je vermocht hatte. Führte doch der Konflikt um die territoriale Struktur der Schweiz 1979 zur Gründung eines ganzen Kantons: dem Jura.
Es hat etwas Charmantes, beinahe Rührendes, wie de Roulet die Gemütslage der jungen Separatisten beschreibt, deren Kampf um Autonomie zwar durchaus historisch begründet war, zu einem guten Teil aber auch schlicht von der Freiheitsromantik dieser Zeit getragen wurde. Die Bewunderung galt den Nordiren wie den Basken, den Korsen wie den Vietnamesen und selbstverständlich Che Guevara.
Doch wenn es daran ging, es ihnen mit ähnlich radikalen Mitteln gleichzutun, siegte meist Schweizer Bedächtigkeit. Manchem genügte die Aussicht, in neuer kantonaler Verwaltung „eine ruhige Kugel zu schieben“.
Genau danach steht dem Journalisten Niklaus Meienberg so gar nicht der Sinn. Wo sich die Béliers als Freiheitsbewegte inszenieren, sieht er sich als Getriebener eines unbändigen Drangs zur Wahrheit. Und wie bei den Rebellen aus dem Jura mag man auch beim Heißsporn an dieser allzu romantisch anmutenden Selbstdiagnose zweifeln.
Wenn Meienberg gegen alle Widerstände effektvoll auf Pressekonferenzen auftaucht, um unbequeme Fragen zu stellen, und mit seiner neuen Flamme auf dem Motorradrücksitz zum Tatort rast (“Sie mag seinen Fahrstil, wie er sich in die Kurven legt“): Dann scheint Eitelkeit als Antrieb mindestens so wirksam sein wie Wahrheitsliebe.
Ein toter Offiziersanwärter
An diesem Tatort liegt die Leiche eines Schweizer Offiziersanwärters. Wie und warum er zu Tode kam, ist ungewiss, Meienberg jedoch ahnt eine große Sache: Da muss es eine Verbindung geben zur Entführung des deutschen Arbeitgeberpräsidenten, Hanns Martin Schleyer! Und womöglich eine weitere zwischen den Béliers und der RAF?
Mehr dürfte der amtierende Bundesrat Kurt Furgler wissen. Dessen Tochter ist es auch, die so artig Meienbergs Fahrkünste (und noch ganz andere Leistungen) bewundert. Leider jedoch führt diese Liaison nicht dazu, dass die beiden Männer einander näher kommen.
Das Schweigen der Politik
Der Verdacht des Journalisten: Der Politiker schweigt sich über die wahren Hintergründe dieses und noch folgender Morde aus, um nicht seinen mit den gemäßigten Kräften im Jura ausgehandelten Kompromiss zu gefährden. Der neue Kanton umfasst nämlich nur die Hälfte des von der Autonomiebewegung beanspruchten Gebiets.
Damit sich der Leser den Verlauf des Konflikts um den Jura besser vorstellen können, erklärt de Roulet, habe er sich in Gestalt des Journalisten Meienberg einen Ermittler ausgedacht, der ihm „beharrlich auf den Grund zu gehen versucht“. Nun, so ganz dem Bereich der Vorstellungskraft gehört dieser Ermittler nicht an: Niklaus Meienberg gab es tatsächlich, auch die groben Handlungslinien dieses Romans sind historisch verbürgt.
Gerade weil der Autor die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit offen markiert, mutet eine etwaige Sorge vor falschen Schlüssen merkwürdig an. Vielleicht besteht gerade darin der wesentliche Reiz dieser Lektüre: dass sich auf jeder Seite ein unbedingter und allseitiger Wille zum Kleinhalten, Runterfahren, Neutralisieren zu erkennen gibt. In diesem Land, scheint es, kann gar keine Eskalation stattfinden. Im Zweifel geht die Staatsräson über Transparenz und offenen Diskurs.
Ist das schlecht? Kommt drauf an. Der Dichter strebt – wie der Journalist – nach dem Licht der Aufklärung und Streit mit offenem Visier. Aus politischer Sicht aber drängt sich der Eindruck auf, dass die Kunst der viel geschmähten Hinterzimmer-Politik manchmal bessere Ergebnisse hervorbringt.
„Gnadenstoß“ für Niklaus Meienberg
Von der „Groupe Bélier“ jedenfalls geht kaum mehr Gefahr aus. „Einige sind bereits gestorben, andere haben vielleicht ein öffentliches Amt ausgeübt oder mit ehemaligen Feinden Geschäfte getrieben.“ Man arrangiert sich.
Niklaus Meienberg beging nach einem Schreibverbot bei seiner früheren Zeitung und Depressionen Suizid. Ein ganzseitiger Artikel „voller Unwahrheiten“ gegen ihn und seine Mutter, schreibt der Autor, habe ihm „den Gnadenstoß“ gegeben: Dies sei eine „typisch schweizerische Gewaltanwendung“.