Christoph Keller

Der Schweiz geht es ganz gut. Im Ländervergleich sowieso. Es ginge ihr gar besser, würde sich nicht eine Partei, eine – man kann sich das nicht oft genug auf der Zunge zergehen lassen –, die sowohl starke Regierungs- als auch stärkste Oppositionspartei ist, mit staatszerstörerischer Lust Scheinproblemen widmen.

Diese Partei ist die Schweizerische Volkspartei, die SVP, die sich heimlich entschieden hat, die helvetischen US-Republikaner zu werden. Ihr Chefdemagoge, Nationalrat und Weltwoche-Herausgeber, ist ein Möchtegern-Tr… nun, ich habe mich bislang an meine Regel gehalten, den Namen jenes amerikanischen Präsidenten zu unser aller Schaden nicht auch noch weiterzuverbreiten.

Scheinpolitiker leben von Scheinproblemen. Scheinprobleme setzen Scheinrealitäten voraus. Scheinrealitäten aber gibt es nicht, zumindest nicht im handfesten Bereich der Politik, die Menschen konkret betrifft. Deshalb musste in den USA schon 2017 der Begriff „alternative Fakten“ verbreitet werden – um allzu eklatante Lügen politisch salonfähig zu machen. Lügen führt zu Misstrauen, letztlich zu Chaos. Das ist die Absicht, denn herrschen chaotische Zustände, lassen sich irre Ideen durchsetzen. Scheinprobleme vertragen die Wahrheit so gut wie Vampire das Sonnenlicht.

Der Schweizer Schriftsteller Christoph Keller.
Der Schweizer Schriftsteller Christoph Keller. | Bild: Ayse Yavas

Vor bald zwanzig Jahren hat die SVP (genauer: Über-SVPler Christoph Blocher in einem Interview mit dem Zürcher „Tages-Anzeiger“ vom 13. Juni 2003) ein fatales Unwort in die helvetische, faktisch existierende Welt gesetzt: „Scheininvalide“. Das sind Menschen, vorzüglich ausländische, die vorgeben, eine „Invalidität“ zu haben, um bei der „Invalidenversicherung“ (die in der Schweiz vermutlich völkerrechtswidrig noch immer so heißt) abzukassieren.

Um jenen, von denen es bestimmt einige Exemplare gibt, das üble Handwerk zu legen, stellte die sprachinnovative SVP gleich alle Menschen mit Behinderung unter den Generalverdacht, nur zum Schein behindert zu sein. Gratuliere, SVP: „Scheininvalide“ war in der Schweiz das Unwort des Jahres 2003.

Es ist die bewährte Methode des Populisten (Christoph Blocher gilt übrigens ein bisschen als Vorläufer des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten: Über diesen Bumerang dürfen wir uns also nicht zu lauthals beklagen). Es ist stimmen- und stimmungsmäßig ergiebiger, den faulen Apfel zur Regel hochzulügen und den ganzen Apfelkorb zu vergiften als gegen die faulen Äpfel vorzugehen.

Mit den „Scheininvaliden“ machte man Hetzjagd auf eine besonders wehrlosen Bevölkerungsgruppe. Jetzt hat sich die Scheinpartei gegen das ganze Land verschworen. Zum Scheinproblem ist der „Stadt-Land-Graben“ erkoren worden.

Christoph Blocher bei einer SVP-Delegiertenversammlung in Graubünden, 2018.
Christoph Blocher bei einer SVP-Delegiertenversammlung in Graubünden, 2018. | Bild: Gian Ehrenzeller

Ich habe lange genug in den USA gelebt, um zu spüren, woher dieser kalte Wind weht. Und um mitzuerleben, was geschehen kann, wenn man sich ihm nicht entgegenstellt. Ein mehrheitlich erfundenes, im Ansatz möglicherweise existierendes Problem wird so lange (und länger) vergrößert, bis genug Menschen daran glauben, es handle sich hier wirklich um eines.

In den USA ist der „Graben“ zwischen Stadt und Land, zwischen den Küsten mittlerweile besorgniserregend groß geworden. In der Schweiz ist das noch nicht der Fall. Mag es ein (selbstgeschaufeltes?) Gräbchen geben. Was aber dann die größte Partei der Schweiz machen müsste, sei hier naiv angemerkt, wäre es, dieses Problem zu lösen, diesen Graben zu schließen. Zu oft aber muss die SVP zu Protokoll geben, dass sie nicht etwa Öl ins Feuer gieße. In der üblen Hoffnung, für ein paar Stimmen aus einem Scheinproblem ein handfestes gemacht zu haben.

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Diese Strategie hat in den USA zum Sturm auf das Kapitol mit mehreren Toten – keiner davon ein Scheintoter – geführt. In Bern kam es bereits zu einem Stürmchen auf das Bundeshaus. Von nun an müssen Absperrungen, materielle und menschliche, aufgestellt werden. Politikerinnen werden geschmäht, Politiker erhalten Morddrohungen. Unsere Bundesrätinnen und -räte, ein verstörendes Novum für unser historisch verschontes Land – sind nun auf Schutz angewiesen. Vorbei ist es mit dem freundlich nickenden, mit allen anderen auf den Zug wartenden Bundesrat mit dem Aktenköfferchen in der Hand.

Immerhin ein Aufatmen am vergangenen Abstimmungssonntag. Das mit Scheinargumenten bekämpfte Covid-Gesetz wurde mit soliden 62 Prozent angenommen. Man könnte darin einen Vertrauensbeweis sehen. Der Ruhe ins Land bringt und zeigt, dass der Graben mehrheitlich noch ein Scheingraben ist. Das aber lässt sich die SVP nicht bieten. Zwar akzeptiert die Partei „selbstverständlich“ das Resultat, das Geraune aber, sich dem Volkswillen, für den sich die Schweizerische Volkspartei so selbstlos einsetzt, eben doch zu widersetzen, wird lauter.

Chaos als politische Strategie

Auch das ist der Strategie der US-Republikaner entlehnt: Zweifel streuen; alles infrage von Wahlresultaten bis zu den politischen Institutionen stellen; vom geschaffenen Chaos politisch profitieren. Der SVP-Bundesrat Ueli Maurer wird hier zum Spaltungssymbol auf höchster Regierungsebene: den Beschlüssen des Bundesrates – Kollegialitätsprinzip! – beistimmen und sie bei Gelegenheit infrage stellen. Beides öffentlich.

Das alles ist brandgefährlich. Denn ist das Grundvertrauen, das in der Schweiz nach wie vor gut spürbar ist, einmal erschüttert, ist alles möglich. Auch, dass ein Entwurmungsmittel für Pferde gegen Corona hilft. Kein Witz, es ist von der St. Galler SVP im Kantonsrat als Interpellation ins Gespräch gebracht worden. Ein paar Vertrauensselige haben es zu sich genommen und sind daran erkrankt. Vielleicht liegt es ja nur daran, dass die guten Menschen eine Pferdeportion geschluckt haben. Ob es sie vor dem Virus schützt, ist medizinisch noch nicht erwiesen. Der Hype um das Mittel – Ivermectim – kommt übrigens auch aus den USA.

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Immerhin mehren sich SVP-Stimmen, denen wenigstens der Pandemiekurs ihrer Partei Kopfschmerzen bereitet. Nationalrätin Verena Herzog sorgt sich, dass bei der Fraktion medizinische Fakten nicht mehr zählen würden. Ständerat Hannes German meint, als Volkspartei habe man den Auftrag, die Gesellschaft zu einen und nicht zu spalten.

Während die Partei selber nach der verlorenen Covid-Abstimmung vom 28. November in ihrer Medienmitteilung die „Verantwortung für die Spaltung der Gesellschaft“ bei allen anderen ortet. Vielleicht aber spaltet sich ja die Spaltpilzpartei. Der Schweiz wäre es zu wünschen.