Herr Keller, wegen der Coronakrise sollen wir alle zuhause bleiben. Wird man da nicht depressiv?

Ich vermutlich nicht. Als Schriftsteller und dann erst noch einer im Rollstuhl bin ich isolationsgeübt. Dass wir jetzt alle zuhause bleiben sollen, hat für mich etwas Befreiendes. Plötzlich fällt da ein enormer Druck weg. Ich glaube, vor allem Frauen werden das verstehen.

Warum ausgerechnet Frauen?

Plötzlich müssen sie nicht mehr einem Schönheitsideal entsprechen. Keine Dauerpropaganda mehr. Puff, weg, befreit! Ich muss jetzt nicht mehr dauernd lesen, was es da alles für tolle Sachen gibt, die ich nicht machen kann. Plötzlich sollen wir alle zuhause bleiben. Puff, Druck weg, befreit!

Als Rollstuhlfahrer haben Sie rund 30 Jahre lange Erfahrung mit eingeschränkter Mobilität. Welchen Rat können Sie uns geben?

Halten Sie es mit der Bauhaus-Methode: Weniger ist mehr. Ich bin lebenslänglich dazu gezwungen, alles langsamer anzugehen. Da meine Erkrankung progressiv ist, werde sogar ich selbst immer langsamer. Es ist ein steter Prozess, aber das ist das Leben ja sowieso. Verwechseln Sie also nicht mit Weisheit, was mir passiert, vielmehr sind mir die idealen Voraussetzungen gegeben, Geduld und damit auch sehr viel Verzicht zu üben.

Nach Ansicht des Philosophen Blaise Pascal rührt alles Unglück der Menschen daher, dass sie nicht in der Lage seien, einfach mal zuhause zu bleiben. Stimmt das?

Hundertprozentig.

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Mussten Sie angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Coronakrise an Ihre kürzlich erschienene Erzählung „Der Boden unter den Füßen“ denken?

Ja, schon. Ich bin ja anscheinend ein prophetischer Schriftsteller. Da stellt einer ein radikales Experiment mit sich selber an, indem er sich – nachdem ihm eine Brücke eingestürzt ist, wobei ein Dutzend Menschen umgekommen sind – aus dem Verkehr zieht und ein ganz anderes Leben führt. Diese Pandemie ist nun beides: eine eingestürzte „Riesenbrücke“ und ein radikales Experiment. Meine Hauptfigur schlägt ein Brückenbau-Moratorium vor, wir haben jetzt gleich einen weltweiten Vollstopp. Das ist völlig faszinierend, auch wenn mir wesentlich lieber wäre, das alles fände lediglich in der Fiktion statt.

Was können wir von diesem gescheiterten Brückenbauer lernen?

Den Verzicht. Und dass Verzicht, maßvoll angewandt, das einzig Wahre ist.

Man soll ja auch den Verzicht nicht übertreiben. Aber wenn wir überleben wollen, nicht nur diese Pandemie, dann müssen wir akzeptieren, dass wir das Virus sind. Nicht, weil sich die Natur jetzt wehrt. Die Natur wehrt sich nicht, die ist einfach und macht einfach. Idealerweise wächst sie, wenn wir sie ließen. Aber wir haben uns anscheinend darauf verschworen, sie abzugrasen, aufzufressen und, weil das nicht schnell genug geht, zuzubetonieren.

Das Brückenbauen und das Reisen genießen bei uns einen guten Ruf: Wer verbindet, heißt es, ermögliche Verständigung, und wer reist, bilde sich. Vergessen wir darüber, dass durch Verbindungen und Reisen auch so unschöne Dinge wie Viren zu uns gelangen?

Und Bakterien. Allerdings vergessen wir es nicht, wir wissen es ganz genau. Brücken sind doch gut, und Reisen ist es auch. Aber tatsächlich werden im Krieg zuerst die Brücken gesprengt, damit sie der Feind nicht benutzen kann. Deshalb muss jetzt als erstes das Reisen dran glauben. Es ist auch hier das Unvermögen, maß zuhalten, der Unwille auf den Verzicht. Muss denn wirklich alles verbrückt werden? Mag nicht manches getrennt besser gedeihen? Dazu würde ich gerne die Indios hören, die Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro derzeit systematisch abmurkst.

Wo es Brücken gibt, wird auch gereist...

Muss wirklich jeder Depp überallhin reisen, bloß weil er oder sie irgendwo ein Föteli gesehen hat? Ich höre selten einen Satz, bei dem ich sagen kann: Doch, diese Welthalbumrundung hat sich gelohnt. Reisen bildet eben leider nicht mehr. Und den Horizont erweitert es auch nicht mehr, es verpestet ihn jetzt. Im Grunde sollte nur Werner Herzog reisen dürfen. Der bringt die besten Reiseberichte mit nach Hause.

Zeigt sich in der Krise auch ein Warnschuss der Natur? Ist es zynisch, sie deshalb auch als Chance zu verstehen? Seit Beginn der Corona-Pandemie sind in China die CO2-Emissionen um 25 Prozent gesunken!

Wer nicht hören will, muss fühlen. Kommt aber darauf an, als was für eine Chance. Wussten Sie, dass der amerikanische Vizepräsident, Mike Pence, gottesfürchtiger Krieger in Sachen weißer Vorherrschaft, damals die Chance in New Orleans nach dem Hurrican Katrina genutzt hat? Mr. Pence war der Vorsitzende des Republican Study Comitees, das sich darum gekümmert hat, dass die Armen, vor allem schwarze Amerikaner, die in den Fluten alles verloren hatten, auch noch vertrieben werden. Stattdessen stehen da jetzt Luxuswohnungen für wohlhabende Weiße. Ich gehe davon aus, dass Mr. Pence und sein unsäglicher Boss längst dabei sind, die Corona-Pandemie auszuschlachten. Es fällt mir schwer, mir etwas Zynischeres vorzustellen.

Burgen, Dämme und Brücken, heißt es in Ihrem Buch, bauen auch Tiere wie etwa der Biber. Aber nur der Mensch glaube, solche Konstruktionen müssten für die Ewigkeit geschaffen sein. Ist unser Bewusstsein um die Endlichkeit des Lebens schuld am faustischen Höher-Schneller-Weiter?

Das ist ein faszinierender Gedanke. Lebensgier. Es darf um keinen Preis aufhören, selbst wenn es aufgehört hat. Hybristen (wäre das nicht ein schönes Wort?) wie Elon Musk wollen ihr Ego ja nun auch noch ins Universum schicken und auf dem Weg dorthin unseren schönen Himmel mit Satelliten zubetonieren. Das käme einem Biber nun wirklich nicht in den Sinn. Der baut ökologisch und weiß es nicht einmal. Perfekt! Wir wissen es, wissen wie es geht, tun es aber nicht. Das ist dann Geldgier.

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Für ältere Menschen sowie für Personen mit Vorerkrankungen kann das Coronavirus lebensbedrohlich sein. Sehen Sie sich besonders gefährdet?

Ich halte mich nicht für gefährdet, nehme das alles aber sehr ernst. Meine Atemwege sind intakt, aber die anderer sind es nicht. Darauf müssen wir alle Rücksicht nehmen. Für die, die sich jetzt über die Vorsicht anderer lustig machen, habe ich kein Verständnis. Eine Bemerkung noch zum Schluss. Was mir schmerzhaft auffällt, ist, dass ich unter den unzähligen Artikeln über den Corona-Virus noch keinen gesehen habe, der sich damit beschäftigt, wie es jetzt den vielen Menschen mit Behinderung ergeht. Was ich jetzt lese, habe ich das meiste schon fünf Mal gelesen, nichts aber uns, jene notorisch Schwächsten, an deren Wohlergehen man scheinbar misst, wie gut eine Gesellschaft ist. Das macht mir mehr Sorgen als das Virus.