Mit dem Flugzeug auf die Malediven, mit dem SUV in die Innenstadt: Viele Errungenschaften im Dienst eines angenehmen Lebens lassen uns hadern und schämen. Hat der Mensch mit seinem Forschergeist und Entdeckungsdrang aufs falsche Pferd gesetzt? Müsste er angesichts von Hitzerekorden und Dürreperioden, aber auch von Hass, Hetze und Egoismus seine Überzeugungen nicht grundlegend überdenken?
Lion, Hauptfigur und Ich-Erzähler im neuen Roman des St. Galler Autors Christoph Keller, hat dem Ideal der modernen Industriegesellschaft ein halbes Leben gewidmet. Als Ingenieur baute er Brücken über Straßen und Täler, auf dass immer mehr Menschen immer weiter in die Ferne schweifen können. Brücken sind noch nicht so verdächtig wie Flugreisen oder große Autos, im Gegenteil: Wer welche baut, kann mit Bewunderung rechnen. In der Politik gilt die Bezeichnung „Brückenbauer“ als höchstes Lob.
Doch dann stürzt eine von Lions Brücken ein. Vier Autos stürzen in die Tiefe, neun Menschen sterben. Eine Katastrophe als Zeichen: Das Brückenbauen, sagt der Ingenieur, sollten wir überdenken. Ein Moratorium wäre gut, ein Jahr lang keine Brücken mehr bauen, bewusst auf das Verbinden, Vernetzen und Optimieren verzichten. Vielleicht erkennen wir in dieser Zeit, was falsch läuft auf unserer Welt.

Er selbst geht mit gutem Beispiel voran, bleibt fortan einfach mal zu Hause, im Garten. Beobachtet Eichhörnchen, Schneckenspuren, zu Boden schwebende Blätter. Im Herbst, wenn die Vergänglichkeit offensichtlich wird, denken wir ehrlicher, radikaler über unser Leben nach.
„Ich schaue und sehe immer mehr“
„Ich schaue und schaue und sehe immer mehr“, erkennt er. Ein Specht hüpft um die Scheinzypresse. In zwei schwarzen Stiefeln hat sich das Regenwasser gesammelt. Hinten sitzt ein Bär. Ein Bär?
In der Natur verschwimmen Traum und Wirklichkeit. So wirkt es wie eine Fata Morgana, als neben dem Wacholderbaum der Nachbarsjunge Andri auftaucht und nach seiner Mutter fragt. Sie sei ihm verloren gegangen. Der Frau gilt Lions heimliche Sehnsucht: eine attraktive Anwältin, die ihn im Prozess um den Brückeneinsturz vor einer Verurteilung zu bewahren versucht. Einen Mann, der sich doch selbst schuldig fühlt, ja sogar das Brückenbauen ganz generell infrage stellt.

Das Eintauchen in die Natur, die Suche nach der vermeintlich verloren gegangenen Anwältin: Es steckt viel Schuldbewusstsein in alldem. „Eine nicht eingestürzte Brücke ist eine nicht eingeforderte Schuld“, sagt Lion einmal. Seine Brücke ist eingestürzt.
Nur der Mensch kriegt es nicht hin
Doch es findet sich in dieser Natur auch Entlastendes. Man muss sie nur aus wissenschaftlicher Perspektive betrachten: so wie Cora, Lions Partnerin und Autorin von Öko-Bestsellern. Es liege in der Natur des Menschen, erklärt sie, „gegen die Natur vorzugehen“. Jeder Biber, jede Ameise baut Dämme, Burgen und Brücken, ohne dabei den eigenen Lebensraum zu zerstören. Nur der Mensch kriegt das nicht hin. Weil seine Gene mit dem Fortschritt nicht mithalten. Rein körperlich gesehen befinden wir uns noch im Pleistozän, allein unser Geist hat sich schon ins Anthropozän fortentwickelt.
Die Anwältin, die Lebensgefährtin, eine Nachbarin, ein kurdischer Gärtner: Sie alle nehmen im Ringen um einen Umgang mit Scham und Schuldgefühl eine Rolle ein. Wie mythische Gestalten stehen sie wahlweise für den Glauben an Gerechtigkeit, Wissenschaft und Fortschritt oder auch Vergebung. Und indem sie nach und nach Lions heimischen Garten aufsuchen, verwandeln sie ihn in einen Gerichtssaal der Natur.
Märchenhaft fantastische Wege
Die Rechtsprechung nimmt darin oftmals geheimnisvolle, märchenhaft fantastische Wege. Und es ist nicht immer leicht, dem Autor auf diesen Wegen zu folgen.
Aber immer wieder blitzen großartige Sprachbilder und raffinierte Denkfiguren auf. Etwa wenn sich die vermeintlich nüchterne, hellsichtige Anwältin ganz bewusst der Erblindung anheimgibt, um als neuer Ödipus im Dunkeln erst sehend zu werden. Oder wenn Cora aus dem Beginn der Landwirtschaft frappierend schlüssig das Übel unserer Zeit ableitet: Weil bewusster Anbau schützende Zäune braucht, Zäune aber Ausgrenzung bedeuten und Ausgrenzung Feindschaft. „Aus einer zyklischen Kultur sind wir zu einer blindlings vorwärtspreschenden geworden, aus dem beschützenden Kreis wurde ein angriffiger Pfeil.“

Nicht lange dauert es, da sieht sich unser Held beim Jagen von Tieren und Sammeln von Früchten: eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Menschseins. Soll darin ernsthaft die Lösung für unsere Probleme liegen?
„Bleib, wo du bist“
Vielleicht genügt fürs Erste eine Reduktion unseres Verkehrs. Entgegen allen romantischen Verklärungen des Reisens ist nämlich mit der Immobilität mehr erreicht: „Willst du einen kühlen Kopf bewahren, bleib, wo du bist.“
Am Montag, 23. September, um 20 Uhr, stellt Christoph Keller sein Buch in der Kellerbühne in St. Gallen vor.