Manche nordamerikanischen Naturvölker kennen keine Behinderung, nicht einmal als Wort. Dass Menschen unterschiedlich gebaut, gestickt, begabt sind, gilt ihnen als Selbstverständlichkeit. Und so kann der geistig beeinträchtigte Mensch immer noch ein guter Wasserträger sein, der hörgeschädigte ein hervorragender Hüttenbauer und der Gelähmte ein hervorragender Geschichtenerzähler.

Ungenügen für die Gesellschaft

Christoph Keller dagegen bekommt sein Ungenügen für die Gesellschaft täglich zu spüren. Der in St. Gallen lebende Schriftsteller leidet seit seiner Jugend an einer spinalen Muskelatrophie (SMA), aufgrund der Krankheit ist er heute auf einen Rollstuhl angewiesen. Dieser Umstand bedeutet eine schwere Bürde, für ihn selbst, offenbar aber auch für viele Menschen in seiner Umgebung.

Im Restaurant etwa: Die Kellner sind gestresst, die Räumlichkeiten auf möglichst hohe Besucherzahlen zugeschnitten. Für den Rollstuhlfahrer ist ein Platz reserviert, direkt am Gang zu den Toiletten. So ein Rollstuhl ist breiter als die Norm vorsieht, es stehen Griffe und andere Teile von ihm ab. Wohin man ihn auch platziert, es will nicht passen, entweder stört er die Bediensteten oder die anderen Gäste. Man bemüht sich um Contenance, doch die Botschaft ist nicht zu überhören: Warum muss so jemand hier überhaupt sitzen?

Der St. Galler Schriftsteller Christoph Keller in seinem Garten.
Der St. Galler Schriftsteller Christoph Keller in seinem Garten. | Bild: Ayse Yavas

Es ist eine Gesellschaft, die mit immer feineren Sprachregelungen davon ablenkt, dass Menschen, die nicht dem aufrecht gehenden, kerngesunden Durchschnittstypus entsprechen, in Wahrheit mehr und mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Zum Beispiel weil Restaurants ähnlich wie Fluglinien einem gnadenlosen Wettbewerb um Kosten- und Prozessoptimierung unterliegen. Das Besteigen einer Maschine ist für den Rollstuhlfahrer Keller deshalb stets mit einer demütigenden Prozedur verbunden: gewaltsames Zerren, Schieben und Stoßen in Spezialrollstühle und zu enge Flugzeugsitze, das alles vor Publikum und in höchster Eile.

„Jeder Krüppel ein Superheld“

Unter dem Titel „Jeder Krüppel ein Superheld“ hat Keller diese Erfahrungen aufgeschrieben. Man staunt bei der Lektüre, wie wenig genügt, um einen Menschen vom öffentlichen Leben auszuschließen. Mal ist es ein defekter Aufzug im New Yorker Metropolitan Museum, mal ein banaler Schneehaufen, vom Räumdienst achtlos an den Rand des Zebrastreifens geschoben. Man muss ein Superheld sein, um diese vermeintlich niedrigen Hürden zu überwinden.

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Besonders schmerzhaft wir die Ausgrenzungserfahrung, wenn sie dort geschieht, wo Rücksichtnahme und Toleranz ganz groß geschrieben wird: im Kulturbetrieb. Und damit ist nur am Rande das Erlebnis gemeint, Veranstaltungen des Schriftstellerverbands PEN nicht besuchen zu können, weil es für Rollstuhlfahrer keine Möglichkeit gibt, in den Saal zu kommen. Ein entsprechender Beschwerdebrief beim Präsidenten bleibt unbeantwortet. „Das interessiert die schlicht nicht“, muss das PEN-Mitglied konsterniert feststellen.

Weitaus ernüchternder als die Erkenntnis, dass Ignoranz auch vor Vertretern der Kultur nicht Halt macht, wirkt die Einsicht in die Uniformität ihrer prominentesten Figuren. Menschen mit Behinderungen kommen zwar in Romanen und Filmen vor, als fiktive Reflexionsflächen fürs Publikum. Ein wirklich behinderter Künstler aber ist eine Ausnahmeerscheinung.

Geduldige Alibi-Vögel

„Noch immer wird mehr über uns geschrieben als von uns“, notiert Keller: „Die einzigen Beispiele von Schriftstellern mit Behinderung sind die Ausnahmen, die geduldigen Alibi-Vögel.“ Von Bands mit behinderten Musikern ganz zu schweigen. „Nicht-Behinderte sind unsere Zoowärter, wir ihre Tiere. Sie schreiben Bücher über uns und die Käfige, in denen wir leben. Sie schreiben über uns, um ihre Karrieren voranzubringen.“

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Natürlich gibt es auch die Momente des Triumphs. Dann erkennt der Rollstuhlfahrer, dass er seinem Schicksal tatsächlich Superkräfte abgerungen hat. Zum Beispiel Zen-ähnliche Ruhe: Warum hetzt er denn so, der Passant auf den Straßen von Manhattan? „Leg dir etwas von meiner SMA zu, Kumpel“, ruft er ihm zu. „Carpe diem, aber calma!“

Doch das sind nur kleine Siege, die meiste Zeit seines „Lebens in der Exklusion“ (so der Untertitel) fühlt er sich wie Gregor Samsa in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“: ein sich ständig verschlechternder Zustand und das damit einhergehende Bewusstsein, anderen immer mehr zur emotionalen und finanziellen Last zu werden. Zumal in einem Gesellschaftsmodell, das schlechte Zustände nicht verzeiht.

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Zwischen seinen Splittern aus dem eigenen Leben erzählt Keller „Die Verwandlung“ neu: eine „Wanzengeschichte“, in der ein nichtsahnender Mann mittleren Alters schleichend zu einem wahren Ameisenhaufen mutiert. Was anfangs raffiniert scheint, leidet allerdings im weiteren Verlauf unter zunehmender Entfremdung vom realen Erfahrungsbericht. Bei Kafka ist das Ende hart, aber nachvollziehbar – warum Keller genau das für die einzige Schwäche des Klassikers hält, wird nicht ganz klar.

Am Sonntag hätte der Autor für sein Buch „Der Boden unter den Füßen“ den Alemannischen Literaturpreis 2020 entgegennehmen sollen. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung wird gestiftet von der Stadt Waldshut-Tiengen, dem SÜDKURIER und der Sparkasse Hochrhein. Wegen Corona musste die Veranstaltung nun ins Frühjahr verschoben werden. Kellers neues Buch, „Jeder Krüppel ein Superheld“, mag in literarischer Hinsicht nicht an den Vorgänger heranreichen: ein eindrucksvolles Dokument vom Leben in einer Welt der radikalen Optimierung ist es allemal.

Christoph Keller: „Jeder Krüppel ein Superheld – Splitter aus dem Leben in der Exklusion“, Limmat Verlag: Zürich 2020; 220 Seiten, 24 Euro.