Herr Horacek, was bedeutete für Sie persönlich der Prager Frühling?
Ein Verfahren vor dem Militärgericht gegen mich wurde eingestellt. Ich galt als politisch unzuverlässig und war angeklagt worden, weil ich laut gesagt hatte, dass wir in einem großen Gefängnis lebten. Alexander Dubcek als Chef der Kommunistischen Partei veränderte das politische Klima. Es wurde liberaler und menschlicher. Man sah Dubcek beispielsweise in der Badehose beim Kopfsprung. Bis dahin waren die Parteifunktionäre nur mit dunklem Mantel und Hut bei Parteisitzungen aufgetreten.
Wie erinnern Sie sich an den Einmarsch der Truppen ?
Der Bautrupp, bei dem ich als Elektromonteur arbeitete, hatte gerade in Nordmähren eine Straße gebaut. Die sowjetischen Soldaten zerstörten sie mit den Panzern, als sie über Nacht in die Tschechoslowakei eindrangen. Wir waren sehr enttäuscht. Unser Vorarbeiter hat geweint. Er war Professor an der Technischen Universität in Brünn gewesen und musste aus politischen Gründen in der Produktion arbeiten.
Wie gelang Ihnen die Flucht?
Ein Freund, der bei den Grenztruppen in Znaim diente, kannte das Grenzsicherungssystem. Wir sind zusammen Anfang September über den Todesstreifen ohne Pässe zu Fuß bis Österreich gegangen.
Wie wurden Sie in Österreich und später in Deutschland aufgenommen?
Sehr freundlich. Beim Per-Anhalter-Fahren haben wir eine kleine tschechische Fahne gezeigt. Alle, die uns mitnahmen, haben uns als Flüchtlinge erkannt und uns zu essen und zu trinken gegeben. Wir konnten damals kein Deutsch, haben trotzdem in Deutschland als Elektromonteure schnell Arbeit gefunden. In Böhmen und Mähren waren wir gut ausgebildet worden. Das ist übrigens bis heute so. Die praktische Ausbildung in Tschechien ist sehr gut. Nur die höhere Bildung, die Menschen befähigt, auch politisch zu denken und die richtigen Entscheidungen zu treffen, wird völlig vernachlässigt.
War den Westdeutschen die Lage in der Tschechoslowakei bekannt?
Die Bilder von Panzern auf dem Wenzelsplatz wurden im Farbfernsehen übertragen. Außerdem hatte die Bevölkerung die Flucht nach dem Ungarn-Aufstand miterlebt. Der Westen fühlte sich hilflos und konnte nur ohnmächtig zuschauen und nichts gegen die Sowjets unternehmen, so wie heute auch wieder, wenn die Russen gegen Abchasien und Georgien vorgehen.
Was geschah nach 1968 in der Tschechoslowakei?
400 000 Menschen wurden aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Die anderen wurden zu einer Nation der Korrupten, der Kollaboranten und der Ängstlichen. Die Gesellschaft ist bis heute kaputt. Die politische Kultur und das menschliche Miteinander fehlen.
Sie haben dann in Frankfurt in den Siebzigern Politikwissenschaften studiert. Wie kamen Sie zu den Grünen?
Ich traf Dany Cohn-Bendit und Rudi Dutschke, weil ich eine intellektuelle Reformzeitschrift für die tschechische Opposition namens „Listy“ herausgebracht habe. Cohn-Bendit bezeichnete sich als antikapitalistisch und antikommunistisch. Beide haben mir geholfen, Oppositionelle in der Tschechoslowakei zu unterstützen. Ab 1983 besuchten dann auch grüne Abgeordnete Vaclav Havel als Kopf der Charta 77 in Prag.
Wie waren Sie an der Gründung der Grünen beteiligt?
Unter anderem, indem ich zusammen mit Joseph Beuys und Petra Kelly, unterstützt von Heinrich Böll, bei der ersten Europawahl 1979 angetreten bin. Wir haben uns für die Sonnenblume als Symbol und die Farbe „Grün“ entschieden.
Wie haben der Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 und die Samtene Revolution ihre Heimat verändert?
1990 galt in der Bevölkerung die Devise „Bereichert Euch und genießt alles“. Einkaufzentren wurden die neuen Kirchen. Vaclav Havels politische Ziele scheiterten. Nach seinem Abtreten schlug das Pendel zurück. Noch heute befindet sich die Tschechische Republik im Übergang von einer totalitären Republik zu einer demokratischen. Es herrschen Korruption, Hass und Nationalismus. Die Mächtigen von damals haben die Fäden in der Hand. Erst die jüngere Generation, die Sprachen lernt und versucht, mehr von der Welt mitzubekommen, wird das langsam verändern.
Wie beurteilen Sie als früherer EU-Parlamentarier das Verhältnis der Tschechen zur EU heute?
Die EU wird von vielen nur als Melkkuh betrachtet. Sogar der Ministerpräsident und Milliardär Babis nimmt für seine vielen Agrarbetriebe EU-Subventionen in Milliardenhöhe. Nach der Erweiterung übernahmen nicht etwa die mitteleuropäischen Staaten die westeuropäischen Standards. Sie osteuropäisierten vielmehr die EU.
Sie haben das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag geleitet. Was haben Sie dort erreicht?
Wir konnten die Bio-Bauern stärken. Nicht nur in Prag, sondern auch in kleineren Städten gibt es jetzt Bioläden mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. Außerdem bin ich Mitglied des Tschechisch-Deutschen Gesprächsforums, das den Dialog zwischen Sudetendeutschen, Deutschen und Tschechen fördert. Dabei können wir nicht das Weltgeschehen beeinflussen, aber auch die Reparatur einer Kirche kann Menschen zusammenführen.
Zur Person
Milan Horacek war 21 Jahre jung, als am 21. August 1968 Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling mit Gewalt beendeten. Die Jahre 1965 bis 1967 hatte der Elektromonteur teils im Gefängnis, teils als Bausoldat verbracht. Kurz nach der sowjetischen Invasion floh er durch den Todesstreifen zwischen der Tschechoslowakei und Österreich nach Deutschland. In Frankfurt am Main gehörte Horacek zu den Gründungsmitgliedern der Grünen, wurde deren Abgeordneter im Frankfurter Römer, 1983 im Bundestag. 2004 zog er ins Europaparlament ein. Heute lebt er in Prag. Als Vertreter der Sudetendeutschen gehört er dem Präsidium des Bundes der Vertriebenen an.