Schach hat etwas Verbindendes. Das Spiel wird am Hörnle, einem bei Konstanzern und Gästen aus nah und fern beliebten Strandbad, während der Sommermonate genauso gern gespielt wie am nahe gelegenen Suso, einem humanistischen Gymnasium in unmittelbarer Sichtweite zum Bodensee.
Es ist 13.30 Uhr. Im Musikerviertel der Stadt Konstanz trifft sich gerade die Einstiegsmannschaft der Schach-AG im Raum 101 des Heinrich-Suso-Gymnasiums. Die Regeln seien ihnen schnell vertraut gewesen, berichten die Schüler beim Aufbauen der Bretter. Da brauche man, ähnlich wie beim Bolzplatz nebenan, keine extralange Einführung, um ins Spiel zu kommen.
Fähigkeiten spielerisch weiterentwickeln
Einige beugen sich tief über das Spielfeld, andere lehnen entspannt zurück auf dem Stuhl, um ihre ersten Züge von Turm, Läufer oder Springer zu planen. Die einen ziehen ihre Figuren schnell und entschlossen, andere wägen gefühlt jeden erdenklichen Schritt sorgfältig ab – manchmal bis zum letzten Moment, eine Geduldsprobe.
Roman (10) aus der fünften Klasse mag solche strategischen Spiele. Am meisten fasziniert ihn die Möglichkeit, diese Fähigkeiten im spielerischen Rahmen weiterzuentwickeln. Gemeinsam mit seinem gleichaltrigen Spielpartner Abteen fachsimpelt er darüber, ob es mehr als nur einen Lösungsweg gibt. Gibt es ihn? Die beiden denken noch eine Weile darüber nach.
Begabung wird hier sichtbar, ganz spielerisch, im Zusammenspiel aus Intelligenz, Kreativität und überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Die Uhr daneben tickt derweil weiter, zwischen den Partien wird gelacht, gescherzt und manchmal auch getröstet. Roman und Abteen besuchen beide den sogenannten Hochbegabtenzug, kurz HBZ – ein Angebot, dass es derzeit an 14 Gymnasien in Baden-Württemberg gibt, von Lörrach über Karlsruhe bis Heidelberg.
In Konstanz ist David Jansen (33) im fünften Jahr für die Koordination des HBZ zuständig. Für ihn ist es wichtig, dass Schule und Eltern eng zusammenarbeiten, um den herausfordernden Lern- und Entwicklungsprozess der Kinder gut zu gestalten. „In der Begabtenförderung geht es unter anderem darum, dass Schüler mit hohem kognitiven Potenzial auch gute Leistungen zeigen können“, sagt er. Dafür benötige es geeignete Umweltfaktoren.
Angebot für Kinder aus der ganzen Region
Der Mensch stehe im humanistischen Leitbild der Schule immer als Ganzes im Zentrum. Und das gelte für alle Klassen, betont Patrick Hartleitner, Schulleiter des Suso-Gymnasiums und geschäftsführender Schulleiter aller Konstanzer Gymnasien. Das Suso erreiche mit seinem HBZ, welcher die anderen Schulklassen ergänzt, talentierte Kinder aus der ganzen Region. Einige fahren dafür sogar mehr als eine Stunde täglich zur Schule, quer durch den Landkreis Konstanz.
Die Klassen für Hochbegabte verbinden zwei Ziele: Sie beschleunigen den Lernprozess, auch Akzeleration genannt. In der dabei eingesparten Zeit wird das Lernangebot durch Zusatzangebote bereichert, sogenanntes Enrichment. Vertiefende wissenschaftliche Experimente gehören ebenso dazu wie zusätzliche Wahlprojekte oder Wettbewerbe wie „Jugend forscht“.
Sich für einen Platz in diesem Förderprogramm anzumelden, sei eine bewusste Entscheidung der ganzen Familie, berichten Eltern beim Infoabend. Ein besonders häufiger Wunsch dabei? Dass Gleichgesinnte sich verbinden, solche, die ähnliche Interessen und Fähigkeiten haben.
Die Schüler schätzen es, gleichzeitig Teil einer größeren Schulgemeinschaft zu sein, mit Kindern aus den anderen Klassen des allgemeinbildenden Gymnasiums, im MINT-Bereich: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Die verschiedenen musikalischen und sprachlichen Zusatzangebote der Schule gehören ebenso dazu. Und auch in den Fächern, die klassenübergreifend unterrichtet werden, zum Beispiel Profilfächer (Altgriechisch, Französisch oder NwT), Religion, Ethik oder Sport.
Schnell denken und komplexe Probleme lösen
Roman und Abteen sind mittlerweile beim Mittelspiel angekommen. Hier sei es jetzt besonders wichtig, in „einen strategischen Vorteil“ zu kommen, erklären die Schüler beiläufig. Ein Kind, das schnell denkt und auch selbstständig die komplexesten Probleme lösen kann? Das klingt nach dem Traum eines jeden Lehrers. Die Teilnehmer der Schach-AG sind nach wie vor in ihr Spiel vertieft, immer noch – und so soll es doch auch sein.
Die Gesellschaft neige bisweilen dazu, hochbegabte Kinder als „kleine Genies“ zu sehen, findet Jansen, solche, die keinerlei schulische Zusatzförderung benötigten. Das sei eine Fehleinschätzung, so der HBZ-Koordinator. Und die führe dazu, dass wichtige Bedürfnisse dieser Kinder in der öffentlichen Wahrnehmung übersehen werden, beispielsweise das Verstandenwerden oder der Anschluss an Gleichaltrige.

Auch Hochbegabte können im schulischen Alltag mit Hürden kämpfen, wie etwa mit Aufmerksamkeitsdefiziten oder sozialen Anpassungsschwierigkeiten. „In einem ähnlich motivierten, schnell und vertieft denkenden Umfeld kann dem häufig entgegengewirkt werden“, so empfindet es Jansen. In überfüllten Klassen, bei einem straffen Bildungsplan und „enormer Heterogenität“ dagegen bleibe oft wenig Raum, für „individuelle Förderung“.
„Alle Kinder bringen Begabungen und Interessen mit, nicht nur am Gymnasium!“David Jansen, Koordinator des Hochbegabtenzugs
Dazu kommen noch andere Baustellen an den Schulen, von Gewalt bis zum Mangel an Lehrkräften und heruntergekommenen Gebäuden, wie eine deutschlandweite Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung kürzlich gezeigt hat. Ob mit oder ohne hohe Intelligenzquotienten, Jansen betont: „Alle Kinder bringen Begabungen und Interessen mit, nicht nur am Gymnasium!“
Schach, das sei einfach eine gute Mischung, finden die am Nachbartisch sitzenden Schüler der achten Klasse. Johannes und Lasse versuchen, „möglichst gewinnbringend“ ins Endspiel zu kommen. Das Besiegen des spielerischen Gegners gehöre einfach dazu, kommentiert Klassenkamerad Lukas, der die Situation der beiden mit Argusaugen beobachtet.
Gemeinsam konnten sie ihren ersten Erfolg bei den Badischen Schulschachmannschaftsmeisterschaften feiern, in der Turniermannschaft, zufälligerweise genau am 145. Geburtstag von Albert Einstein. „In dieser Gewinnstellung muss ich jetzt einfach liefern“, murmelt ein Mitspieler am Tisch gegenüber, in sein eigenes Endspiel vertieft, und zieht seine Figur durchs Feld: „Schachmatt“!
Jakob (11) ist mit vollem Eifer dabei. Eingeschult in einer sogenannten Regelklasse, hat er vor seinem Wechsel dieses Schuljahr ans Suso-Gymnasium verschiedene Angebote der Hector-Kinderakademie besucht. Besonders das Apothekerdiplom ist ihm in Erinnerung geblieben. Der Schüler berichtet, wie sie jede Menge Kräuter im Wald sammelten und sodann alles Weitere selbstständig herstellten: Öle, Salben, Medikamente – ein mehrtägiges Projekt im Stadtmuseum von Radolfzell am Bodensee ebenso wie in den Räumen der Ratoldusschule.
Die Konrektorin der Gemeinschaftsschule, Katharina Schmal, hat die Geschäftsführung inne. Ihr Resümee: „Diese Kurse machen nicht nur Spaß, sondern helfen dabei, auch Freundschaften zu schließen und gemeinsam zu lernen.“
Begabtenförderung beginnt im Grundschulalter
Begabtenförderung findet in Baden-Württemberg bereits im Grundschulalter statt, in Lörrach ebenso wie in Donaueschingen oder Pfullendorf. Für Lehrkräfte wie Schmal ist es „eine Welt voller Abenteuer, wo Lernen zum Erlebnis wird“. So wird Begabung sichtbar, spielerisch, beiläufig. Begabte Schüler wie Jakob, zuvor nominiert durch ihre Klassenlehrer, haben die Wahl aus einer ganzen Palette an Kursen. Am Ende entscheide meist das Los, denn die Nachfrage ist riesig.
Jakob komponierte so bereits Musik, ganz kreativ, mit Legosteinen im Kurs „Mathematik zum Anhören“, oder beschäftigte sich mit intelligenten Forschungsfragen, wie zum Beispiel dieser hier: Wie viel Chemie steckt in ganz alltäglichen Produkten? Und spielte in der Zwischenzeit die eine oder andere Partie Schach.
Redaktioneller Hinweis: Unser Autor ist selbst Lehrkraft an zwei Konstanzer Schulen und Vater hochbegabter Kinder.