Wenn der achtjährige Maxim seiner sechsjährigen Schwester Julia einen Tipp geben kann, dann dass sie sich nicht anmerken lassen soll, wie leicht ihr manches in der Schule fällt. Denn andere Kinder würden das nicht mögen. Diese Erfahrung hat Maxim gemacht. Und nicht nur beim Kontakt mit Gleichaltrigen tat er sich schwer: „Er wollte einfach nicht einsehen, warum er immer wieder das gleiche machen muss. Er hat sich irgendwann geweigert, überhaupt etwas zu schreiben“, erklärt Mutter Tatjana Berner. Nach einigen Anläufen kam mit einem Intelligenz-Test die Erkenntnis: Maxim ist hochbegabt. Wenig später wurde klar: Julia ist es auch.

Doch was bedeutet die Diagnose? Das zeigt ein Besuch bei der Familie in Stockach, bei der Hector-Kinderakademie in Radolfzell und ein Gespräch mit einer Schulpsychologin in Singen.

IQ-Test kann Stärken und Schwächen zeigen

„Ich staune immer wieder, dass viele bei Hochbegabung an einen verrückten Professor oder ein Mathegenie denken, der im Alltag nicht klar kommt“, sagt Schulpsychologin Katharina Luisa Boehme – denn das sei nicht so. Abgesehen von einer schnelleren Auffassungsgabe gebe es nämlich kaum Unterschiede. Von einer intellektuellen Hochbegabung spreche man ab einem Intelligenzquotienten von 130, doch es gebe auch eine sportliche, musikalische oder künstlerische Hochbegabung. Ein IQ-Test könne helfen, Stärken und Schwächen aufzuzeigen, doch die Schulpsychologin betont: „Es braucht immer den Blick aufs Kind.“

Katharina Luisa Boehme ist Schulpsychologin und immer dann gefragt, wenn es Probleme im Unterricht gibt. Eine mögliche Erklärung ist ...
Katharina Luisa Boehme ist Schulpsychologin und immer dann gefragt, wenn es Probleme im Unterricht gibt. Eine mögliche Erklärung ist eine Hochbegabung. | Bild: Arndt, Isabelle

Denn die Nachricht einer Hochbegabung könne manche Betroffene verunsichern, weil sie dann mit Vorurteilen konfrontiert werden und befürchten, abgelehnt zu werden, wie Schulpsychologin Boehme erklärt. Häufig führe nicht die Hochbegabung an sich zu Problemen, sondern die Passung. Der acht Jahre alte Maxim fasst das ganz gut zusammen: „Wir machen nicht immer, was andere Kinder machen.“

Das könnte Sie auch interessieren

Hochbegabung kann ein Grund für Probleme sein

Häufig führen Probleme in der Schule die Eltern zur Schulpsychologischen Beratungsstelle in Singen, wie Katharina Luisa Boehme erklärt. Eine ähnliche Motivation hatte Familie Berner für den IQ-Test: „Wir hätten ihn nie zum Test geschickt, wenn es in der Schule nicht so schief gelaufen wäre“, erinnert sich Tatjana Berner. „Er hat in der Illusion gelebt, er sei dumm und könne einiges nicht, denn ihm fehlten die Erfolgserlebnisse.“

Familienbild im Kinderzimmer: Familie Berners erhielt mit IQ-Tests die Klarheit, dass Maxim (acht Jahre) und Julia (sechs Jahre) ...
Familienbild im Kinderzimmer: Familie Berners erhielt mit IQ-Tests die Klarheit, dass Maxim (acht Jahre) und Julia (sechs Jahre) hochbegabt sind. Das konkrete Testergebnis haben die Eltern ihren Kindern nicht verraten, um sie nicht zu beeinflussen. | Bild: Arndt, Isabelle

Erfolge kamen erst in der dritten Klasse, nachdem er die zweite überspringen konnte: „In der ersten Klasse habe ich mich ablenken lassen, weil ich die Aufgaben schon alle konnte“, sagt Maxim. Er lernt schneller als andere: Um Schreibschrift zu lernen, musste er nicht stundenlang die einzelnen Buchstaben üben, sondern habe sie nach nur wenigen Stunden beherrscht. „Das ist mir in zehn Jahren als Realschul-Lehrerin noch nie passiert“, erinnert sich Tatjana Berner.

„Sie macht alles mögliche, Hauptsache viel“

Die Geschwister haben einiges gemeinsam: Sie sind beide die Jüngsten in ihren Klassen und wollen stets etwas dazulernen. „Manchmal müssen wir sie bremsen. Sie macht alles mögliche, Hauptsache viel“, sagt Vater Jan Berner mit einem Schmunzeln über seine Tochter und zählt auf: Sie gehe ins Ballett, Hip-Hop, Turnen, spielt Klavier und Klarinette. In den Sommerferien habe sie 37 Bücher gelesen. „Wir machen das, weil es uns Spaß macht“, erklärt Maxim, denn dann wisse man schon viel und könne sich in der Schule oft melden.

Maxim Berner zeigt stolz eine seiner vielen Bestätigungen für Kurse, die er belegt hat. Dieses stammt von einer Kinder-Uni.
Maxim Berner zeigt stolz eine seiner vielen Bestätigungen für Kurse, die er belegt hat. Dieses stammt von einer Kinder-Uni. | Bild: Arndt, Isabelle

Klingt nach einem Streber, ist aber doch ganz anders: Ein Streber ist per Definition in egoistischer Weise bemüht, in der Schule oder im Beruf vorwärtszukommen. Doch Hochbegabung bezeichnet ein Entwicklungspotenzial. „Es ist kein Selbstläufer, dass sich dieses Potenzial entfaltet. Dafür braucht es eine unterstützende Umgebung“, sagt auch Schulpsychologin Katharina Luisa Boehme. Fordern und fördern seien wichtige Stichworte. Eltern müssten dafür nicht alle Talente ihrer Kinder teilen, sondern könnten auch emotional und organisatorisch unterstützen.

Eltern sind gefordert – und Kritik ausgesetzt

Bei Julia zeigte sich die Unterstützung etwa darin, dass ihre Eltern viele Formulare ausfüllten, damit sie schon mit fünf eingeschult werden konnte. Den Vorwurf, dass man ihr damit ein Stück der Kindheit raube, wollen sich die Eltern nicht gefallen lassen: „Für die Kinder ist es Stress, wenn sie nicht beschäftigt sind“, stellt der Vater klar. Generell sei Hochbegabung gesellschaftlich „nicht nur gerne gesehen“: Oft ernte man hämische Blicke und Herausforderungen würden abgetan. Aber: „Es ist eben kein Luxusproblem“, betont Tatjana Berner – weder für die Kinder noch für ihre Eltern. Sie sei ständig damit beschäftigt, neue Spiele oder Übungen zu finden, um ihre Kinder sinnvoll zu beschäftigen.

An der Hector Kinderakademie wird auch getüftelt, hier etwa im Kurs „Chemie in der Natur“ für Klasse 1 und 2 mit den ...
An der Hector Kinderakademie wird auch getüftelt, hier etwa im Kurs „Chemie in der Natur“ für Klasse 1 und 2 mit den Schülern Hanna Ehling, Julia Berner, Pia Domka, David Wittmann, Nora Schneider und Nevio Ehinger. | Bild: Katharina Schmal

Ein Ort, an dem hochbegabte Kinder ihren Wissensdurst stillen können, ist die Hector-Kinderakademie in Radolfzell. Dort können aktuell 340 Grundschulkinder aus dem Landkreis Konstanz Kurse belegen von Chinesisch lernen bis zu Computerspiele selbst programmieren, wie Leiterin Katharina Schmal erklärt. Zwei der Kinder sind Julia und Maxim Berner. Für die Teilnahme braucht es keinen IQ-Test, sondern die Empfehlung einer Lehrkraft. In einigen Fällen sei die Akademie der Ort, an dem die Kinder erstmals mit Gleichgesinnten zusammen kommen und ihre Neugier ausleben können.

Das könnte Sie auch interessieren

Katharina Schmal hat auch als Konrektorin der Ratoldusschule, in deren Räumen die Hector-Kinderakademie ist, immer wieder mit hochbegabten Kindern zu tun und weiß: „Es geht darum, einen individuellen Weg zu bahnen.“ Und das spielerisch, schließlich seien es immer noch Kinder. Das ist allerdings gar nicht so leicht in einem relativ starren Schulsystem mit vollen Klassenzimmern: „Wenn man viele schwache Kinder betreuen muss, gehen starke vielleicht unter“, sagt Schmal. An der Ratoldusschule sei Hochbegabung zwar als Thema präsent, doch man könne das sich noch ausbauen – wenn da nicht Lehrermangel und Krankheitsfälle wären.

In Konstanz befindet sich die einzige Schule im Kreis mit spezieller Förderung für hochbegabte Kinder: Am Heinrich-Suso-Gymnasium gibt es seit 2009 einen Hochbegabtenzug.

Katharina Schmal ist Konrektorin der Ratoldusschule in Radolfzell und Geschäftsführerin der Hector Kinderakademie.
Katharina Schmal ist Konrektorin der Ratoldusschule in Radolfzell und Geschäftsführerin der Hector Kinderakademie. | Bild: Andreas Kochloeffel

Maxim Berner fiebert schon auf das Ende seiner Grundschulzeit hin: Ab September will er ans Gymnasium gehen – und hofft, dass er dort nicht immer das gleiche machen muss.