Eigentlich hätte er längst tot sein sollen. Wenn es nach Peter Vogt ginge, dann wäre sein Todestag der 13. August gewesen. Sein 70. Geburtstag. Doch Vogt darf nicht sterben. Denn er lebt hinter Gittern. Ohne Perspektive, das Gefängnis je verlassen zu dürfen.
Die Haftanstalt im schweizerischen Kanton Zug liegt beschaulich im Grünen, ein paar Kühe grasen dort, gegenüber kläffen lautstark Hunde. Ab und zu fährt ein Auto über die einsame Landstraße. Abgesehen von ein paar Justizbeamten der Haftanstalt ist niemand zu sehen. Die Einöde könnte kaum größer sein.
Für Vogt ist das Alltag. Er sitzt schon in dem Besucherraum, zwei große weiße Tische stehen in dem kahlen Zimmer, getrennt von einem Plexiglas-Aufsteller – wegen Corona. Die Gitterstäbe hinter den beiden Fenstern geben den Blick auf einen weiteren Gefängnistrakt im Hintergrund frei.

Neben Vogt lehnt eine Krücke, er trägt einen Mundschutz, das ist derzeit Vorschrift bei Besuchen. Er hat keine Handschellen an, sitzt breitbeinig auf dem Stuhl, die Hände auf seinem dicken Bauch gefaltet. Er trägt Brille und einen Backenbart, auf seinem grünen T-Shirt steht Australia. Auf seinem linken Arm sind zwei Tattoos zu erkennen, eines davon ist ein Löwenkopf.
Der Mann, der da sitzt, wirkt wie ein in die Jahre gekommener Biker, freundlich, offen, herzlich. Nichts an ihm lässt erahnen, dass er ein verurteilter Seriensexualstraftäter ist, immer noch als gefährlich eingestuft wird von den Schweizer Behörden, die seine Sicherungsverwahrung ein ums andere Jahr verlängern.
Der 70-Jährige ist adipös, hat nach eigenen Angaben Diabetes, chronische Arthrose und COPD. Die Abkürzung steht für eine fortschreitende und bislang nicht heilbare Lungenkrankheit, bei der das Lungengewebe nach und nach zerstört wird. Vogt leidet nach eigenen Angaben an Lungen- und Herzinsuffizienz und muss täglich mehrere Medikamente einnehmen. Er sagt, das Atmen falle ihm zunehmend schwer. Doch auch er muss Maske tragen, so wollen es die Vorschriften.
Jubiläum hinter Gittern
„Morgen habe ich Jubiläum“, sagt er mit schwerem schweizerischen Akzent. Doch ein Grund zu feiern ist das für ihn nicht. Denn an diesem Tag hat er 26 Jahre im Vollzug verbracht. Dabei hat er seine Haftstrafe seit 16 Jahren abgesessen. Seither ist er in Sicherungsverwahrung, ohne Aussicht auf Entlassung. Vogt gilt als gefährlich, nach wie vor. Er ist intelligent, wortgewandt, kennt sich aus mit den Gesetzen zur Verwahrung, mit aktuellen Fällen von Sexualstraftätern.
„Er missbrauchte 13 Kinder und Frauen“ – „Lasst ihn nie mehr raus“. So titelte damals, 1996, das schweizerische Boulevardblatt „Blick“ zu Vogts letzter Gerichtsverhandlung. „Da stand das Urteil schon vorher fest“, sagt Vogt über den Prozess damals. Damals urteilte ein Geschworenengericht, Vogt erzählt, einige von ihnen hätten beim Betreten des Gerichtssaals die „Blick“ unter dem Arm gehabt. „Es ging darum, dass man mich von der Straße wegholt“, glaubt er.

Zehn Jahre bekam er wegen versuchter Tötung an einer Frau, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Es ist die einzige Tat, die Vogt bis heute bestreitet. In jener Nacht im Januar 1993 sei er bei einer Fasnachtsveranstaltung in seiner Heimat gewesen, Zeugen seien nicht gehört worden, der Prozess habe auf Indizien beruht. Doch Vogts Schicksal scheint besiegelt.
Historie der Gewalt
Seine Vergangenheit spricht nicht gerade für ihn. Seine Kindheit spiegelt die typischen Vorzeichen eines späteren Gewalttäters wieder. Er wuchs in einem Bauernhof auf, der Vater prügelte die ganze Familie. Vogt erzählt von Nächten, in denen er mit seiner Mutter und den Geschwistern auf den Speicher geflohen sei, um dem trunkenen und gewaltbereiten Vater auszuweichen.
Dann wurde er selbst zum Gewalttäter, kam ab den 70er Jahren immer wieder in Haft, in den 80er Jahren gelang im die Flucht, bevor er wieder in Haft kam. Wenn er auf freiem Fuß war, hielt er sich mit allerlei Jobs über Wasser – vom Handwerk bis zur Landwirtschaft. In den 90er Jahren wird er dann endgültig hinter Gitter gebracht – bis heute.
Vogt hat die Arme über seinem massigen Bauch verschränkt, dreht immer wieder die Daumen umeinander, wenn er spricht. Er wirkt unruhig. Immer wieder kehrt er zur Vergangenheit zurück, dem Leben, das er einmal hatte. So etwas wie ein normales Leben. Zumindest teilweise. Vogt war verheiratet, seine Ex-Frau und die gemeinsame Tochter besuchten ihn noch heute, sagt er. Die Kinder aus einer ersten Partnerschaft hingegen hätten den Kontakt mit ihm abgebrochen.

Vogt sagt, er habe trotzdem noch ein gutes soziales Netzwerk, das ihn unterstütze. Menschen, die ihn auch nach 26 Jahren nicht aufgegeben hätten. Sie sind seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Sein einziger Halt. Eine Frau, die namentlich nicht genannt werden möchte, kontaktiert den SÜDKURIER bei seinen Recherchen immer wieder, setzt sich merklich für ihren „Peter„ ein.
Trotzdem spricht Vogt immer wieder von der psychischen Belastung der Verwahrung. „Das macht mich psychisch kaputt“, sagt Vogt. „Ich bin kein Don Quijote, ich kämpfe nicht gegen Windmühlen.“ Und doch kämpft er.
Seine Anwältin Caterina Nägeli kann die Anträge, die in den 20 Jahren, in denen sie Vogt schon betreut, gestellt hat, nicht mehr zählen, sagt sie selbst. Zwölf dicke Aktenordner zählt der Umfang ihrer Arbeit zu Vogt mittlerweile. Zu seiner letzten Verurteilung aber will sie keine Stellung nehmen.
Ein Tag gleicht dem anderen
Vogt lebt auch nach seiner abgesessenen Strafe in der gleichen Zelle, im gleichen Gefängnis, sein Tagesablauf ist immer gleich. Um 7 Uhr gibt es Frühstück, derzeit in der Zelle wegen Corona, um 8 Uhr beginnt die Arbeit. Vogt sagt, er arbeitet als Schlosser, repariert und bastelt Gegenstände.
Über Mittag geht es zurück in die Zelle, nachmittags geht die Arbeit weiter. Um 16 Uhr kommt die Verpflegung für den Abend. Drei Mal in der Woche ist die Etage offen bis 18 Uhr, zwei Mal bis 20 Uhr. Spätestens um 21.30 Uhr wird die Zelle verriegelt, bis am nächsten Morgen um 7.30 Uhr.
In der Zelle hat Vogt seinen Computer – ohne Internet, er nutzt ihn hauptsächlich zum Briefschreiben. Und er kocht gerne, sagt er und klopft sich dabei lachend auf den Bauch. Lesen falle ihm schwer: „Es gibt nur wenige Bücher, die mich fesseln“, sagt er.
Aber es gibt da einen Film, „Gott, du kannst ein Arschloch sein“, da geht es um ein Mädchen, das unheilbar an Krebs erkrankt ist. So etwas rührt Vogt zu Tränen, sagt er. „Ich werde emotional und dünnhäutig mit dem Alter“, sagt er.
Er schaut auch Sexualstraftäter-Dokus
Wenn man ihm so zuhört, könnte man meinen, man spricht mit einem freien Mann, der von seinen Hobbies erzählt. Doch dieser Mann verfolgt auch Dokus über andere Sexualstraftäter an, wie den belgischen Sexualstraftäter Dutroux oder Berichte über jüngste Vergewaltigungsfälle in Deutschland. „Wer solche Delikte begeht, schaut Sendungen darüber an“, sagt Vogt, als sei das selbstverständlich.
Vogt vergisst nie, wo er sich befindet. Die Gitter sind omnipräsent, lassen keine Illusionen entstehen. Für ihn ist das kein Leben mehr. Die Perspektivlosigkeit ist es, die ihm den Lebenswillen raubt. Seit Jahren werden ihm die Ausgänge aus dem Gefängnis verwehrt, obwohl nie etwas vorgefallen war.
Andere Häftlinge haben bei Ausgängen, teils unbegleitet, neue Straftaten begangen, in einem Fall wurde eine Frau vergewaltigt und ermordet. Seither tun sich die Behörden schwer, Ausgänge zu bewilligen. Auch bei Vogt. „Das ist sehr empörend verlaufen“, beklagt Anwältin Nägeli.
Nicht mehr gefährlich? Das Frauenbild bleibt zweifelhaft
Und ein ums andere Gutachten bescheinigt dem inzwischen gealterten und chronisch kranken Mann Gemeingefährlichkeit. Vogt sieht das selbst anders. Die Taten von damals bereue er heute: „Ich bin nicht mehr die gleiche Person von damals“, sagt er. Er hält sich selbst nicht mehr für gefährlich.
Doch Vogts Frauenbild schimmert bisweilen durch. Er verstehe nicht, warum es heutzutage ein Problem sei, Frauen schöne Brüste oder Hintern zu attestieren, sagt er, formuliert es aber etwas vulgärer. Wenn man heute eine Beziehung eingehen wolle, sollte man am besten gleich einen Vertrag aufsetzen, meint er, um keinen Ärger mit der Polizei zu bekommen.
Es sind die Momente, in denen man zweifelt an der Geschichte Vogts. Und doch will man ihm glauben, diesem Mann, der da sitzt und davon erzählt, wie es ist, Jahrzehnte hinter Gittern zu sitzen, ohne jemals auf ein Ende der Verwahrung hoffen zu können.
Verzögerungstaktik der Behörden?
Vogt hat vieles versucht, das Gutachten dennoch angezweifelt. Er ließ sich von einer Rechtspsychologin untersuchen, um gegen das Gutachten anzugehen. Die Fachpsychologin empfiehlt darin die „schrittweise Vorbereitung auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft“ und weist auf die „ausbleibende prozessorientierte Perspektive“ seitens der „fallverantwortlichen Behörden“ hin. Lange hätten die Behörden nicht darauf reagiert, auf einen Termin für die reguläre Überprüfung, ob die Verwahrung noch angemessen ist, wartet Vogt ohnehin.
Erst nach einer Beschwerde seiner Anwältin bestätigt die zuständige Behörde in Bern den Eingang eines Gesuchs Vogts zu Vollzugslockerungen. Sein Rechtsbeistand Nägeli unterstellt den Behörden eine bewusste Verzögerungstaktik. Das zuständige Amt für Justizvollzug in Bern gibt an, die Verwahrung werde regelmäßig überprüft – auch bei lebenslänglichen Maßnahmen. Auf erneute Nachfrage heißt es dann: „Die Prüfung der beantragten Vollzugslockerung ist im Gange.“ Doch dass die Entscheidung zugunsten Vogts ausfällt, ist unwahrscheinlich.
Vogts einziger Ausweg aus dem Gefängnis nach dem Ende seiner Strafe wäre die Überstellung in eine sogenannte stationäre Maßnahme gewesen, in der er intensive Therapiesitzungen besuchen müsste. Das will Vogt nicht. „Er möchte nicht psychiatrisiert werden“, wie seine Anwältin es umschreibt. Ein Weg aus der Psychiatrie zurück in die Freiheit wäre für Vogt wohl ebenso unwahrscheinlich gewesen wie die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung.
Gedanken an das Ende
In dem Gutachten der Fachpsychologin steht auch, dass bei Vogt eine „Omnipräsenz einer Bilanzsuizidalität“ vorliege. Schon einmal hat er versucht, sich zu erhängen. Da war er draußen, sagt er. Es ist schon lange her. Auch in Haft hatte er öfter Suizidgedanken, „aber für mich ist das jetzt ausgeschlossen“, sagt er heute.
Er will einen legalen Weg finden, aus dem Leben zu gehen. „Ich will kein Pflegefall werden“, betont er: „Weder hier drin noch draußen.“ „Egal, was man als Mensch gemacht hat im Leben, jeder Mensch hat einen Anspruch auf ein würdiges Sterben und einen würdigen Tod“, sagt Vogt. „Ich will nicht im Knast verrotten, bis zum letzten Atemzug“, fügt er hinzu.
„Nur ein Ausweg“
Der Straftäter fühlt sich von der Gesellschaft verbannt. „Es geht nur noch um Rache“, sagt er. „Wegschließen und den Schlüssel wegwerfen“ sei das Prinzip. „Es ist dann nur noch eine Frage der Zeit bis zu der Erkenntnis, dass alles vergeblich ist. Ab dem Augenblick ist dir völlig klar, dass dir nur ein Ausweg aus diesem Dilemma bleibt“, schreibt er in einem Brief an den SÜDKURIER.
Vogt zitiert die Gesetze, die die Verwahrung in der Schweiz betreffen. Er kennt sie alle. Artikel 64, Absatz 2. Darin heißt es: „Die Strafe geht der Verwahrung voran.“ Dort heißt es auch, die Verwahrung kann im geschlossenen Vollzug umgesetzt werden. Doch Vogt hält dagegen: Die Bedingungen der Verwahrung müssten sich vom Strafvollzug unterscheiden. Für Vogt aber hat sich nichts geändert.
Anwältin Nägeli sieht zwar Chancen für Hafterleichterungen. Sie sagt: „Je älter und je gesundheitlich angeschlagener, desto kleiner die Chancen, dass er flüchten könnte“. Bei Vogt erachte sie Fluchtgefahr als minimal: „Er sagt zu Recht: Wo soll ich denn hin?“
Nach Jahrzehnten in der Haft, der Abhängigkeit von Medikamenten für seine chronischen Krankheiten und den entsprechenden körperlichen Einschränkungen sei ein Leben auf der Flucht kaum vorstellbar. Die Zeiten, in denen Vogt auf der Flucht war, teils in Deutschland, sind vorbei, sagt er selbst. „Wie soll ich denn flüchten mit meinen Krücken?“
Der Wunsch zu sterben
Schon vor Jahren hat Vogt deshalb den Kontakt zum Sterbehilfeverein Exit gesucht. Er will sterben. Begleitet im Umfeld seiner verbleibenden sozialen Kontakte. Exitsprecher und Vizepräsident Jürg Wiler sagt dem SÜDKURIER auf Anfrage: „Das Schweizer Strafgesetz schränkt nur ein, dass Suizidhilfe nicht aus ‚selbstsüchtigen Beweggründen‘ erfolgen darf.
Daraus folgt in der Konsequenz: Auch ein verwahrter Häftling – er muss zwingend Exit-Mitglied sein und seine Strafe abgesessen haben – darf Abklärungen für eine Freitodbegleitung beantragen.“ Im erwähnten Fall liefen die Prüfungen von Exit noch, ergänzt Wiler.
Doch nun könnte ausgerechnet von Behördenseite Bewegung in den Fall kommen. Die sogenannte Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) kam in diesem September nach Prüfung eines Gutachtens der Universität Zürich zu dem Schluss, dass Sterbehilfe im Vollzug grundsätzlich gut zu heißen.
Allerdings sind sich die Kantone uneins, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit ein Gefängnisinsasse die Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfe, wie das Schweizer Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) in einer gemeinsamen Mitteilung bekannt gab. Unklar sei demnach auch noch, wer für die Sterbebegleitung zuständig sei und wo sie jeweils stattfinden solle.
Aus dem Amt für Vollzug in Bern heißt es, der „konkrete Regelbedarf“ werde geprüft. Eine schweizweite Regelung wird von den Kantonen befürwortet. Soll heißen: Es wird wohl doch ein Gesetz gebraucht, das die Sterbehilfe regelt. Sprecher Olivier Aebischer kann sich vorstellen, dass die zuständige Justizvollzugsbehörde dann einem Urlaubsgesuch eines Sterbewilligen stattgibt: „Dann kann er seinen Sterbehilfeverein aufsuchen.“
Gesetzliche Grundlage fehlt
Barbara Rohner vom SKJV sagt, das Problem bestehe auch außerhalb der Haftanstalten: Denn in der Schweiz ist die Sterbehilfe nicht gesetzlich geregelt. Dass sie nicht illegal ist, ist eine Interpretation des Grundrechts auf persönliche Selbstbestimmung, erklärt die Expertin, also eine Form der persönlichen Freiheit, auch den Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen. „Das sollte aber auch im Vollzug gelten“, meint Rohner.
Allerdings, so stellt auch die Expertin klar: „Vollzugsbedingungen können nicht der Grund sein, dass man nicht weiter leben will. Es braucht ein Leiden, das auch bestehen würde, wenn man nicht im Vollzug leben würde.“ Ist das bei Vogt der Fall? Seine Atemwegserkrankung könnte ein Faktor sein, die nicht lebenswerten Bedingungen im Vollzug hingegen nicht.
Vogt sagt, er würde seine Entscheidung, zu sterben, noch einmal überdenken, wenn sich seine Haftbedingungen drastisch verbessern würden. Tatsächlich gibt es in der Schweiz keine Einrichtungen für Sicherungsverwahrungen. Einige Pilotprojekte sind derzeit im Gang, allerdings für Häftlinge. Unter den jetzigen Umständen seiner Haft sieht er keinen Sinn mehr darin, weiterzuleben. Er wartet auf den Tod.