Melanie Maier

Eigentlich sollten wir gerade auf einem Schiff Kurs auf Los Angeles nehmen. Mein Freund und ich reisen seit zwei Jahren ohne Flugzeug um die Welt. Wir sind von Bad Wildbad im Schwarzwald mit dem Zug nach Österreich gefahren, haben Osteuropa im Bus und in der Bahn durchquert, sind in der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland gereist, haben die Mongolei, China und Südostasien erkundet. Auf Frachtschiffen sind wir erst nach Australien, dann nach Neuseeland übergesetzt.

Bis September wollten wir noch unterwegs sein. Die USA standen auf dem Plan und Kanada, danach ein Containerschiff von Halifax nach Hamburg. Doch Sars-CoV-2 hat unsere Reiseträume, wie die Millionen anderer, platzen lassen. Seitdem sich das Virus auf dem Globus verbreitet hat, wurden Ausgangssperren verhängt, Grenzen geschlossen. Mailand ist so unerreichbar wie Madagaskar.

Reisepass in der Schublade

Der deutsche Reisepass, normalerweise Eintrittskarte in die meisten Länder der Erde, kann getrost in der Schublade liegen bleiben. Für die kommenden Monate, vielleicht sogar für die kommenden Jahre, bis es einen Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus gibt.

Sie reist, ohne zu fliegen: Melanie Maier auf einem Frachtschiff.
Sie reist, ohne zu fliegen: Melanie Maier auf einem Frachtschiff. | Bild: Melanie Maier

Das Auswärtige Amt, das sonst eher zögerlich und nur für einzelne Krisen- oder Kriegsgebiete Reisewarnungen ausspricht, warnte bis Mitte Juni vor allen nicht notwendigen Reisen ins Ausland. Fast eine Viertelmillion Urlauber wurden aus dem Ausland zurückgebracht: die größte Rückholaktion der deutschen Geschichte. Eine zweite Aktion dieser Art, sagte Außenminister Heiko Maas kürzlich mit streng-ernstem Gesicht, werde es nicht geben.

Kein Sommerurlaub in Übersee

Der Sommerurlaub in Übersee, so viel steht fest, findet dieses Jahr nicht statt. Reisen im Inland werden wohl möglich sein, in die Sächsische Schweiz, an den Bodensee, nach Norderney. Vielleicht auch im europäischen Ausland, in den Ländern, wo es nach der Rückkehr keine 14-tägige Quarantäne mehr gibt.

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Für den Moment ist der Urlaub auf Balkonien das höchste der Gefühle. Glücklich schätzen können sich diejenigen, die einen Garten haben. Das merken auch mein Freund und ich in Neuseeland. Wir sind in Port Albert gestrandet, 45 Minuten nördlich von Auckland, der größten Stadt des Landes. Einen Tag vor dem Inkrafttreten der landesweiten Ausgangssperre hat Jenny, eine 77-jährige Neuseeländerin, uns bei sich aufgenommen. Gegen Kost und Logis helfen wir ihr im Garten.

Gartenarbeit in Neuseeland

In den vergangenen vier Wochen haben wir Unkraut gejätet, Bäume gefällt, Stühle mit Sandpapier abgerieben und bemalt. Manchmal vor dem Haus, zur Straße hin, meistens aber mit Blick auf den Oruawharo-Fluss im Tal, zu dem ich jeden Abend spaziere, um den Möwen zu lauschen und dabei zuzuschauen, wie die untergehende Sonne sich auf dem Wasser spiegelt. Port Albert hat nur eine asphaltierte Straße und nicht einmal 200 Einwohner. Ein Dorf, in dem die Zeit stillzustehen scheint.

Wunder Natur: Ein Schmetterling schlüpft aus seinem Kokon. Port Albert, Neuseeland.
Wunder Natur: Ein Schmetterling schlüpft aus seinem Kokon. Port Albert, Neuseeland. | Bild: Melanie Maier

Vielleicht der passende Ort zum Ausharren in der Corona-Krise, während der Zehntausende Flugzeuge am Boden und Tausende Kreuzfahrtschiffe in den Häfen bleiben. Und doch fühlt sich der Stillstand seltsam an nach 24 Monaten unterwegs. Bis vor Kurzem waren wir frei darin, uns zu entscheiden, wann und wo die Reise weitergehen sollte. Jetzt müssen wir in der Region, in der wir sind, bleiben. Dieser Freiheitsverlust ist schmerzhaft, aber nötig. Wie privilegiert wir vorher waren, macht uns die Krise mehr denn je bewusst.

Massentourismus ist ein junges Phänomen

Der Massentourismus, wie wir ihn kennen, mit Liegestühlen am Strand von Rimini und Billigflügen nach Mallorca, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Noch in den 1950er-Jahren, in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, konnte sich kaum jemand eine Vergnügungsreise leisten. Erst mit den gestiegenen Gehältern sowie der Deregulierung des Luftverkehrs in den 1980er-Jahren hat unser Urlaubsverhalten globale Ausmaße erreicht.

Inzwischen ist der Tourismus der drittgrößte Wirtschaftszweig der Welt. Allein in Deutschland arbeiten 2,92 Millionen Personen in der Branche – gut sieben Prozent der Erwerbstätigen. Für sie ist die Corona-Krise existenzbedrohend.

Sollten ein paar mehr Deutsche als sonst ihren Urlaub im eigenen Land verbringen, könnte das den Druck auf die Branche zumindest etwas lindern. Geringe Umsätze sind besser als keine. Die ersten Bundesländer wappnen sich schon für Besucher. Wobei es gut möglich ist, dass in diesem Jahr wegen der Ansteckungsgefahr oder Gehaltsausfällen viele ganz zu Hause bleiben werden.

Warum Menschen reisen

Gereist sind die Menschen schon immer – um andere Kulturen oder sich selbst besser kennenzulernen, fremde Landschaften zu sehen, Neues zu erleben, den Alltag zu vergessen oder sich schlichtweg zu erholen. Aber ob die Reiselust den Corona-Schock so bald überwiegen wird? Kurzfristig wird das Reisen sicher teurer werden. Denn Abstand halten kostet, im Hotel wie im Flugzeug. Werden wir wieder so reisen können wie früher, sobald ein wirksamer Impfstoff verfügbar ist?

Wenn ich auf die vergangenen zwei Jahre blicke, bin ich froh über alles, was mein Freund und ich erlebt haben. Über das Treffen mit seinen Verwandten in Sibirien, die er 26 Jahre nicht gesehen hatte. Die stundenlangen Fahrten durch das australische Outback, umgeben nur von Büschen und rotem Staub. Das Frühstück mit unserem Couchsurfing-Gastgeber in Singapur in einer winzigen Garküche. Die Ziegengeburt, die wir hinter einem Kloster in der Mongolei beobachtet haben. Über die Sonnenuntergänge in Port Albert.

Erlebnisse gibt es auch ganz nah

In den vergangenen vier Wochen haben wir gelernt, dass man nicht weit wegfahren muss, um Neues zu erleben. Schon gar nicht, um sich zu erholen. In Port Albert lagen wir Nachmittage lang lesend in der Hängematte. Wir haben den Mond faustgroß hinter den Hügeln aufgehen sehen, zugeschaut, wie Monarchfalter mit feuchten, faltigen Flügeln aus ihren Kokons schlüpfen, wie sie fliegen lernen.

Doch um Sonnenuntergänge und Schmetterlinge zu beobachten, muss man nicht nach Neuseeland fliegen. Und so könnte neben allen negativen Folgen die Corona-Krise eine Chance bieten: auf ein Umdenken zugunsten eines bewussten, sozialverträglichen und nachhaltigen Tourismus. Einige sehr stark betroffene Länder, wie die USA, könnten auf Jahre ohnehin unerreichbar sein. Was bleibt, und das vielleicht sogar auf lange Sicht, ist das Entdecken der unmittelbaren und näheren Umgebung.

Reisen auf dem Sofa – die besten Tipps

  • Balkonien: Auch daheim kann man in Urlaubsstimmung kommen: mit Häppchen und einem Cocktail oder Mocktail unter dem Sonnenschirm auf Balkonien oder Terrassien. Vielleicht noch ein bisschen Karibik- oder Reggae-Musik dazu?
  • Fotos: Wer durch die Corona-Krise mehr Zeit zur Verfügung hat, kann sie nutzen, um alte Urlaubsbilder durchzuschauen und in Erinnerung an vergangene Reisen zu schwelgen.
  • Heim-Abenteuer: Ben Fogle macht‘s vor: Zusammen mit seinen Kindern kreiert der britische TV-Moderator Mini-Abenteuer für daheim. Und postet sie auf Instagram.
  • Podcasts: Urlaubsgefühle beim Zuhören verschaffen Podcasts wie das Programm „Weltempfänger“ vom Deutschlandfunk Nova oder „Weltwach“ von Autor Erik Lorenz.
  • Webcam: Kaum zu glauben, wie viele Orte man durch die Linse einer Webcam besuchen kann. Etwa die Golden Gate Bridge in San Francisco oder den Petersdom im Vatikan.
  • Kulturtrip: Museen wie der Louvre in Paris oder das Metropolitan Museum of Art in New York sind online rund um die Uhr für Besucher geöffnet. Viele Museen öffnen inzwischen auch wieder.
  • Vortrag: Mit Online-Livevorträgen schicken unter anderem die Reisever-anstalter Hauser Exkursionen und Travel Essence unter Fernweh Leidende um die Welt.
  • Städtetour: Virtuelle Stadtführungen bieten etwa Stuttgart, Frankfurt und Thüringen an.
  • Blog: Autorin Melanie Maier ist noch immer in Neuseeland. Nachvollziehen kann man ihre Reise ohne Flugzeug in ihrem Blog auf: http://schrittwaerts.de (mma)