Wer eine Strafe abgesessen hat, ist ein freier Mensch. Eine Doppelbestrafung für dasselbe Vergehen in zwei europäischen Ländern ist verboten, ein weiteres Strafverfahren darf nicht eingeleitet werden. Das gilt auch für Deutsche nach der Entlassung aus einem Schweizer Gefängnis. Was aber, wenn ein rückfallgefährdeter Sexualstraftäter, der sich des schweren Kindesmissbrauchs schuldig gemacht hat, nach Deutschland zurückkommt?

Recherchen des SÜDKURIER zeigen: Diese Personen können nicht so beaufsichtigt werden, wie es nach einem Aufenthalt in einem deutschen Gefängnis im Rahmen der Führungsaufsicht möglich wäre. Sie können außerdem nach der Rückkehr aus der Schweiz rasch aus dem Blickfeld der Behörden verschwinden. Drittens scheinen die zuständigen Bundesbehörden nicht zu dokumentieren, wie viele entlassene Straftäter überhaupt aus der Schweiz nach Deutschland überstellt werden.

Experten fordern: Vorschriften nach Überstellungen dringend nachbessern

Die Leiterin des Tübinger Instituts für Gerichts- und Kriminalpsychologie, Ursula Gasch, und der Kriminalwissenschaftler Christian Bitzigeio aus Weil am Rhein machen deshalb einen dringenden Nachbesserungsbedarf bei den derzeit geltenden Vorschriften aus. Die beiden Fachleute sind außerdem der Meinung, dass Bundespolizisten – sie sind für die Überstellung aus dem Ausland zuständig – unabhängig ihrer Funktion mindestens Grundkenntnisse im Bereich sexueller Übergriffe gegen Kinder besitzen sollten.

In einem aktuellen Aufsatz in der Fachzeitschrift „Die Polizei“ kommen sie zum Schluss: Auch Personen, die nicht bereits im Land leben und nicht unter Führungsaufsicht stehen, müssten besser überwacht werden können, zumindest zeitweilig. Denn genau das geben die geltenden Regularien bislang nicht her.

Ein Modell einer elektronischen Fußfessel, eine der Maßnahmen im Rahmen der Führungsaufsicht. (Symbolbild)
Ein Modell einer elektronischen Fußfessel, eine der Maßnahmen im Rahmen der Führungsaufsicht. (Symbolbild) | Bild: Fredrik Von Erichsen

Kein Strafverfahren, keine reguläre Überwachung

Führungsaufsicht scheidet schon deshalb aus, weil es dazu ein deutsches Strafverfahren geben muss. Die baden-württembergische Landespolizei kann den Aufenthaltsort zwar überwachen, auch Kontakt- und Ortsverbote sind möglich. Das Landespolizeigesetz sieht diese Maßnahmen aber ausschließlich zur Abwehr terroristischer Gefahren vor.

Ursula Gasch und Christian Bitzigeio sind der Meinung, der Gesetzgeber müsste prüfen, ob die Befugnisse ausgedehnt werden, etwa auf rückfallgefährdete Straftäter nach der Rückkehr nach Deutschland. „Mutmaßlich hat diese Problematik und die damit einhergehende Gefahrenlage niemand erkannt“, erklären die beide gegenüber der Redaktion.

Hürden sind bei der Bundespolizei schon länger bekannt

Dabei ist sie längst keine Neuigkeit mehr. Die Bundespolizei Weil am Rhein dokumentierte die Hürden anhand eines Falls aus dem Spätherbst 2017 in der Mitarbeiterzeitschrift „Bundespolizei kompakt“. An den „erheblichen und in dieser Form bislang unbekannten Herausforderungen“, wie sie in der Zeitschrift benannt werden, hat sich in den vergangenen Jahren aber nichts geändert. Wie die Redaktion aus Ermittlerkreisen weiß, war dies nicht der letzte und einzige Fall dieser Art.

Damals ging es um einen deutschen Mittvierziger, der einige Jahre in der Schweiz gelebt hatte. Dort wurde er wegen mehrfachen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. In Deutschland war er zuvor wegen der Verbreitung kinderpornografischer Schriften schuldig gesprochen worden. Nachdem er seine Schweizer Freiheitsstrafe teilweise verbüßt hatte, wurde er zur Überstellung nach Deutschland angekündigt.

Schweizer Behörden geben Informationen nur teilweise weiter

In früheren Jahren hatte er als Jugendleiter in Kinderfreizeiten und Sporttrainer wiederholt die Nähe zu Kindern gesucht. Schweizer Gutachter attestierten ihm eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit. Es sei davon auszugehen, dass die Risikobewertung beider Länder deckungsgleich ist, erklären die Fachpsychologin Ursula Gasch und der Kriminologe Christian Bitzigeio.

Wie kompliziert schon der länderübergreifende Austausch der Informationen war, zeigt die Bestätigung der Sachlage durch einen Sprecher der Bundespolizei. Demnach stellten „die Schweizer Behörden im damaligen Fall nur in geringem Umfang Informationen zum Verurteilten und den Ergebnissen seiner forensischen Begutachtung“ zur Verfügung.

Um sich ein genaueres Bild zu machen, ordnete das Ordnungsamt Weil am Rhein auf Anregung der Bundespolizei eine nochmalige psychiatrischen Untersuchung des Mannes an. Dort erkannte man keine „erhebliche gegenwärtige Gefahr“ und er konnte sich frei im Bundesgebiet bewegen. Nach SÜDKURIER-Informationen ging er danach nach Bayern.

Rückfallgefährdete Sexualstraftäter können untertauchen

Der Maßnahme hat der Rückkehrer ebenso freiwillig zugestimmt wie der Speicherung seiner Fingerabdrücke und eines Bildes. Allerdings hätte er auch dann untertauchen können, wenn er das nicht getan hätte, wie Gasch und Bitzigeio erläutern. Die beiden machen es folglich als „Hauptproblem“ aus, dass sich auch ein erheblich rückfallgefährdeter Sexualstraftäter jeglicher behördlichen Überwachung, Therapieangeboten und sonstigen Interventionen entziehen könne.

Zwar könne, so Gasch und Bitzigeio, die Landespolizei unkooperative Personen zur Fahndung ausschreiben, um einen möglichen Aufenthaltsort zu erfahren. Dafür müsste dieser Mensch allerdings erst einmal zufällig kontrolliert werden.

Behörden führen keine Statistik über zurückgekehrte Sexualstraftäter

Was zusätzlich überrascht: Weder das Bundesinnenministerium noch die Polizei wollen über Zahlen verfügen, wie viele freigelassene Straftäter überhaupt von der Schweiz ins Land gekommen sind. Geschweige denn, wie viele darunter sich Sexualdelikten strafbar gemacht hatten. Das jedenfalls sagen Sprecher der Behörden auf Anfrage.

Obwohl davon auszugehen ist, „dass es hierzu einen Vorgang geben muss“, erklärt Kriminologe Christian Bitzigeio. Das Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und der Schweiz sieht das förmliche Anbieten beziehungsweise eine Übernahme verbüßter Straftäter vor. Die Zuständigkeit liege „eindeutig“ bei der Bundespolizei, die wiederum dem Innenministerium zugeordnet ist, sagt Bitzigeio.

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