Es sind erschütternde Bilder, die vom Rand Europas zu uns dringen. Menschen hinter Stacheldraht, von Grenzpolizisten in Schach gehalten. Boote voll mit Flüchtlingen und weinenden Kindern, von Uniformierten zurückgestoßen. Man muss schon sehr hartherzig sein, um solche Schicksale nicht an sich heranzulassen. Warum zeigen wir also nicht Anstand und öffnen den Zaun, der das EU-Mitglied Griechenland vom Drittstaat Türkei trennt?

Wenn es nur so einfach wäre. Unstrittig ist die Not der Menschen, die sich an den griechischen Grenzen stauen. Sie rüttelt Europas Politiker aus dem Tiefschlaf und ruft zugleich in Erinnerung, dass die EU aus der Krise von 2015 nichts gelernt hat. In der Asyl- und Flüchtlingspolitik steht sie heute schlechter da als damals. Fünf wertvolle Jahre wurden vertrödelt, in der irrigen Hoffnung, dass die Elendslager auf den griechischen Inseln und die geschlossenen Häfen im Mittelmeer abweisend genug wirken und Erdogan irgendwie den Rest regelt.

Erdogans Druckmittel

Das Gegenteil ist der Fall. Der türkische Staatschef hat den Flüchtlingspakt von 2016 faktisch aufgekündigt und setzt Europa, vor allem aber Deutschland mächtig unter Druck. Vor den Flüchtlingslagern im Osten des Landes, so ist zu hören, kamen bisher täglich Busse an, um die Menschen an die griechische Grenze zu karren.

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So werden Flüchtlinge zum politischen Druckmittel: Erdogan braucht Geld für seinen Krieg in Syrien. Die sechs Milliarden Euro, die ihm die Europäer insgesamt überweisen – offiziell für die Versorgung von 3,6 Millionen Geflüchteten -, reichen nicht mehr. Entweder zahlt Europa oder er stürzt die EU in eine neue Flüchtlingskrise. Die Mittel dazu hat er, die Skrupellosigkeit ebenfalls.

Schon aus diesem Grund darf Europa dieses Spiel nicht mitspielen. Vor allem aber muss klar sein, warum eine Politik der offenen Tür nicht mehr in Frage kommt. Bis heute leiden Deutschland und Europa unter den Nebenwirkungen von Merkels Alleingang im Willkommensjahr 2015. Er hat die EU tief gespalten, die Briten mit in den Brexit getrieben und der AfD den Weg in den Bundestag und alle 16 Landtage geebnet. Überall in Europas bedanken sich rechte Scharfmacher, Hetzer und Rassisten für die Munition, die ihnen vor fünf Jahren geliefert wurde.

Die Fehler von 2015

Eine Situation wie 2015 werde sich nicht wiederholen, versprach die Kanzlerin deshalb schon wenige Monate später. An dieser Aussage wird nicht nur sie, sondern die gesamte Bundesregierung gemessen. Zuwanderungspolitik ist in Deutschland zu einer Frage des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit des Staates geworden. Sie kann Stammwähler an ihren Parteien verzweifeln lassen, Koalitionen auseinander treiben und die gesamte politische Landschaft umpflügen.

Nichts wirkt verheerender als der Eindruck, der Staat verliere die Kontrolle über seine Grenzen. Das gilt für Deutschland und alle Staaten der EU. Wenn die Grenzen nach außen nicht funktionieren, wird es wieder Grenzen innerhalb Europas geben, warnt Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Recht.

Dies alles sollte bedenken, wer in Griechenland die Tore aufmachen will, und sei es in bester Absicht. Europa sendet an die Unglücklichen dieser Welt immer noch widersprüchliche Signale. Die Lager auf Lesbos und die Schlagstöcke am türkischen Grenzzaun sagen: Kehrt um, ihr seid hier nicht willkommen. Im Internet und von ihren Schleusern empfangen sie eine andere Botschaft: Vielleicht geht es doch.

Das reicht, um Hunderttausende in Marsch zu setzen. Die meisten Menschen, die an der griechischen Grenze Einlass verlangen, stammen nicht aus Syrien, sondern aus Afghanistan, Irak und Afrika. Sie fliehen nicht vor den Bomben Assads, sondern vor der Misere in ihren Heimatländern. Von Europa versprechen sie sich ein besseres Leben.

Was Europa tun kann

Warum holen wir dann nicht wenigstens die besonders Schutzbedürftigen zu uns, so wie die Grünen und die Kirchen es fordern? Mehr als gezielte Evakuierungsaktionen für Kinder, Kranke und Minderjährige in diesem Flüchtlingstreck sind in der Tat nicht drin. Europa kann nicht allen helfen – leider. Realistischer sind Ansätze, Flüchtlinge in der Nähe ihrer Herkunftsländer unterzubringen, dabei aber zu helfen, dass die Bedingungen menschenwürdig blieben, so wie im Fall der Türkei, die neben Jordanien einen Großteil der syrischen Kriegsflüchtlinge aufgenommen hat. Natürlich ist es nur fair, wenn die EU einen Teil der Lasten trägt.

Es rächt sich aber, wenn sie das Geld auf Regierungskonten in Ankara überweist, statt es Hilfsorganisationen in den Lagern zu geben. Wer in andere Länder einmarschiert und selbst ganze Völker vertreibt, kann nicht im Ernst Unterstützung erwarten. Es ist Zeit, gegenüber Ankara einiges klarzustellen.