Es sind Szenen, die Christian Gredig nicht vergessen kann. Ein Junge rennt plötzlich in die Gemeinschaftsküche der Wohngemeinschaft im Haus Steinegg, schnappt sich ein Messer und stürmt die Treppe nach oben zu den Zimmern, in denen die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge leben. „Das Messer war schon am Hals des anderen, er wollte ihn töten.“
Gredig ist Sozialpädagoge in der Schweiz. Der 56-Jährige war Betreuer in dem sogenannten MNA-Zentrum in dem kleinen Örtchen Wiesendangen. Bis zu 30 Jugendliche waren dort untergebracht zu den Hochzeiten der Flüchtlingskrise, die auch die Schweiz traf. Rückblick: Anfang 2016 wird die neue Außenstelle im Kanton Zürich errichtet.
Das Dörfchen nahe Winterthur ist infrastrukturell nicht ausgerichtet für die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen. Die ehemalige Behindertenwerkstatt wird umfunktioniert zum Jugendheim. Kinder und Jugendliche von 12 bis 18 Jahren, geflüchtet aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Somalia. Zusammen auf engstem Raum, Tag und Nacht, sogar der Unterricht findet dort statt – im Keller der Wohngemeinschaft. „Es gab kein Entkommen vor den Peinigern“, sagt Gredig.

„Für mich war das der schlimmste Moment während meiner Zeit dort“
In der brandgefährlichen Situation kann er gerade noch rechtzeitig einschreiten. Er entreißt dem Jungen das Messer. „Das war ein Junge, der so sehr gemobbt wurde, dass er irgendwann zum Angreifer wurde. Das ist das Resultat der internen Hierarchien“, analysiert Gredig die Szene heute. Für ihn ist sie auch drei Jahre später noch präsent, als hätte sie sich erst gestern so abgespielt. „Für mich war das der schlimmste Moment während meiner Zeit dort.“
Dabei hat Gredig viel erlebt in dem knappen Jahr, das er in der neuen Außenstelle verbrachte. Ein Junge, der sich nicht mehr anders zu helfen wusste und aus dem dritten Stock springen wollte. Der Sozialpädagoge redete von unten auf den Jungen ein, während sich die Feuerwehr von hinten übers Dach anschlich und das Kind zurückriss.
Angriff eines Verzweifelten
Einem 15-Jährigen erlaubte Gredig regelmäßig, übers Wochenende auswärts zu schlafen – bei jungen Erwachsenen aus seinem Heimatland. Im Wohnheim hätte er nicht überlebt, fürchtet er. Der Jugendliche sei suizidgefährdet gewesen, erinnert sich Gredig. Die Betreuer waren nur tagsüber da. Nachts spannte die AOZ Hilfskräfte ein.
„Wohl qualifiziertes, aber nicht sozialpädagogisch ausgebildetes Personal“, wie die öffentlich-rechtliche, aber selbstständige Anstalt der Stadt Zürich auf Anfrage bestätigt. Dass es Vorfälle in den MNA-Zentren gegeben hat, bestreitet die AOZ nicht. Aber „für ein sinnvolles Aufbereiten dieser Vorfälle unter Jugendlichen in Zahlen fehlen uns die Ressourcen“, heißt es auf Anfrage des SÜDKURIER.
Pflegefamilien dringend gesucht
Die Ressourcen brachte Gredig selbst auf, erstellte zumindest für die Außenstelle in Wiesendangen eine Übersicht über Übergriffe, die bezeugt werden konnten. Es sind nur Beispiele, keine vollumfängliche Erfassung. Dennoch sagt sie viel über die Zustände in diesem MNA-Zentrum. Die Tabelle ist unterteilt unter anderem in Gewalt, sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe, Selbstverletzungen, Suizidgefährdung. In den ersten drei Feldern haben mindestens die Hälfte der Jugendlichen einen Punkt.
Immer wieder sucht er den Kontakt zu den Verantwortlichen bei der AOZ und dem kantonalen Sozialamt. Für einzelne Kinder, die in dem Heim unter die Räder zu drohen gerieten, bittet er um die aktive Suche nach Pflegefamilien. In einer E-Mail, die dieser Zeitung vorliegt, weist Sabina Düringer, die zuständige Bereichsleiterin, Gredig zurecht: Es liege nicht in seiner Kompetenz, „einen Betreuungsauftrag aufzulösen“.
Gredig ist sicher, dass die AOZ zu Hochzeiten der Krise gutes Geld verdient hat an den Flüchtlingen. Daniel Bach, Sprecher des Staatssekretariats für Migration, gibt an, dass der Bund für minderjährige Flüchtlinge mit Kosten um 250 Franken pro Tag und Person rechne. Im Kanton Zürich dürften die Kosten ähnlich hoch angesiedelt sein.
2017 war die AOZ nach Gredigs Angaben für etwa 600 minderjährige Flüchtlinge zuständig. 180 in den Zürcher Außenstellen Lilienberg und Zollikon, weitere 85 in Sonneberg, Höngg und Wiesendangen. Nur sechs Kinder lebten in Pflegefamilien. Immer wieder macht Gredig auf die Missstände aufmerksam, spricht von „Kindeswohlgefährdung“ in einem Brief an den Präsidenten der AOZ.
Teams ohne ausgebildete Fachkräfte
Einer der Jungen hat ihn angreifen wollen. Mit Eisenstangen aus dem Backofen, die er irgendwie herausgerissen hatte. „Ich habe meine Arme ausgebreitet und der Junge ist mir in die Arme gefallen“, erinnert sich Gredig. Der 14-Jährige sei mit den Nerven am Ende gewesen.
Zu schwer waren die Päckchen, die die Jugendlichen zu tragen hatten. Kriegserfahrungen mit den Taliban, dem IS oder dem Militär, Milizen. Einer der Jugendlichen hatte Gredig immer wieder von einem Traum berichtet, wie er auf der Flucht einem anderen ein Messer in den Bauch gerammt habe.
Traumata aus der Vergangenheit
Später stellt sich heraus, dass der damals 15-Jährige nicht nur geträumt hatte. Zeit, solche Traumata zu behandeln, fehlt. Eine echte Betreuung ist nicht möglich. Gredig rennt immer wieder gegen Mauern, bis er es für sich nicht mehr verantworten kann und seine Kündigung einreicht. Er ist nicht der Einzige. Von dem ursprünglichen Team zu Projektbeginn war zur Schließung im vergangenen Sommer niemand mehr da.
Ähnlich stellt es sich auch in anderen MNA-Zentren dar. Die AOZ spricht lapidar vom Wunsch der Mitarbeiter, „eine berufliche Weiterentwicklung ins Auge“ zu fassen und gibt an, gemäß der üblichen Standards Personal eingestellt zu haben.
Aushilfen ohne sozialpädagogische Kenntnisse
Doch die Sozialpädagogen monieren, dass ihre Teams mit Laien aufgestockt wurden. Vier bis fünf Betreuer auf 30 Jugendliche, die sich den Verantwortlichen ob der Sprachbarriere nicht mitteilen konnten und auch untereinander deshalb kaum kommunizieren konnten.“Wenn sie sich untereinander nicht verbal verständigen können, fliegen die Fäuste“, sagt Ursula Kiener.
„Wir wollen, dass das aufhört“
Die 34-Jährige war ebenfalls in Wiesendangen tätig. Sie blieb länger als Gredig, bis September 2017, bevor auch sie die Reißleine zog. „Ich war einfach müde vom ewigen Kampf gegen das System“, resümiert sie rückblickend. Sie berichtet von Tätern und Opfern, Gredig nennt sie Schwache und Starke. Wer sich nicht durchsetzt, wird untergebuttert. „Wir haben immer gesagt, wir bekommen eine Blackbox – wir wussten nie, was darin steckte, welche Erfahrungen der Jugendliche schon gemacht hat.“ Irgendwann brennt dann eine Sicherung durch: buchstäblich. „Wir hatten regelmäßig Blaulichteinsätze“, erinnert sich Kiener.
Polizeieinsätze an der Tagesordnung
Zunächst hätte die Polizei sie nicht ernst genommen: „Ja habt ihr denn die Kinder nicht im Griff“, soll es geheißen haben. Später erkennen sie den Ernst der Lage. Feuerwehr, Ambulanz, Polizei, manchmal alle gleichzeitig tauchten dort auf.
Die Kantonspolizei Zürich will auf Anfrage nur wenige Einsätze in Wiesendangen gehabt haben – „zur Vermittlung von Streitigkeiten“. Im MNA-Zentrum in Zollikon waren es innerhalb von zwei Jahren gut 60. Auch zu weiteren Außenstellen der AOZ gibt es solche Berichte: Mitarbeiter kündigen und sprechen von Missständen: „Wir wollen, dass das aufhört“, betont Gredig.
Unterstützung für Flüchtlingsprojekte
Vermieter Joachim Tillmanns ist Theologe, hat selbst Jugendarbeit gemacht. Das Projekt mit den Flüchtlingen unterstützte er. Doch heute droht er auf Kosten in Höhe von 140.000 Franken sitzenzubleiben, wie sein Verwalter Georg Schulthess vorrechnet. Tillmanns spricht von verpassten Integrationsmöglichkeiten und überforderten Sozialpädagogen. Schon um die letzte Miete musste er kämpfen. Die Flüchtlingszahlen gingen zurück, besonders bei Minderjährigen. Die AOZ gab zuletzt massive Schulden bekannt.

Das Haus in Wiesendangen ist gezeichnet von der Gewalt der Jugendlichen. Eingetretene Türen, Brandlöcher, Wasserschäden. Schulthess gibt den Minderjährigen nicht die Schuld: „Wir können solche Flüchtlinge nicht hierher holen und dann sich selbst überlassen“, sagt er. Ihre Unterbringung sei „eine Industrie“ geworden. „Der Staat ist überfordert und gibt es an Private, die dann auch überfordert sind.“
Einiges hat Tillmanns wieder instand setzen lassen. Die oberen Räume sind inzwischen neu vermietet an die Flüchtlingsorganisation ORS, die dort erwachsene Flüchtlinge unterbringt. Die AOZ lässt sich im Streit um die Schäden von der Präsidentin des Mieterverbands vertreten: Anita Thanei gilt als eine der teuersten Anwälte des Landes.
Neue Aufträge für umstrittenen Betreiber
Die Schweiz will weiter mit der AOZ zusammenarbeiten, die für den Bund Erstaufnahmeeinrichtungen führt: „Es gab nie Beanstandungen von unserer Seite.“ Der Kanton Zürich verweist auf die AOZ, äußert sich selbst nicht zu den Vorwürfen. Den Zuschlag für die Betreuung minderjähriger Flüchtlinge im Kanton hat die AOZ im März übrigens erneut bekommen – für fünf Jahre.
Lehren aus der Flüchtlingskrise
- Sozialpädagogische Betreuung für minderjährige Flüchtlinge hat das Staatssekretariat für Migration erst im Juni festgelegt. In den Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion, wo auch die Asylanträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge bearbeitet werden, soll künftig Fachpersonal eingesetzt werden. Nach dem Asylverfahren werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf die Kantone verteilt.
- Die sogenannten MNA-Zentren unterliegen einem Betreuungsschlüssel, allerdings sind die Regeln hier weniger streng: So darf auch unqualifiziertes Personal eingesetzt werden. Ein Sozialpädagoge muss zwischen sechs und zehn Jugendliche betreuen, wie aus der Antwort eines Stadtrats auf eine Anfrage hervorgeht.
- 107 184 Übernachtungen waren 2017 in den MNA-Zentren in Lilienberg, Zollikon und weiteren Außenstellen registriert, 2018 nur noch 68 791. Die Auslastung ging damit von 111 Prozent auf 78 Prozent zurück – die Zentren waren 2017 demnach überlastet. Die Zahl minderjähriger Flüchtlinge ging von 2736 im Jahr 2015 auf 401 in 2018 zurück.
- 2018 hat die AOZ zwei Drittel des Personals verlassen: In 54 Fällen hat der Arbeitgeber gekündigt, in 27 Fällen gingen die Mitarbeiter selbst. 45 arbeiteten weniger als zwei Jahre für die AOZ, wie aus der Antwort eines Zürcher Stadtrats auf eine Parlamentsanfrage hervorgeht. (mim)