Auslöser

Den Dreh- und Angelpunkt für den Aufbruch Tausender Europäer gen Syrien und Irak sieht man beim Landesverfassungschutz in dem Giftgasanschlag des syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Unschuldige Menschen starben qualvoll. Doch es muss mehr dahinterstecken, wenn mehr als 40 000 vornehmlich junge Leute ihr normales – sicheres – Leben in Europa zurücklassen, um in ein Bürgerkriegsland zu ziehen. Selbst der Leiter der Abteilung Internationaler Extremismus und Terrorismus beim Landesverfassungsschutz in Stuttgart, Herbert Müller, sagt dem SÜDKURIER, er habe „nie so richtig verstanden, warum so ein Hype um Syrien“ entstand.

Phänomen

Wissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat eine Erklärung für das Phänomen. Schon 2012 habe der IS über eine „soziale Basis“ in Syrien verfügt, mit Kontakten in den Irak. 2013 rief IS-Anführer Baghdadi, der vor wenigen Tagen vom US-Militär aufgespürt wurde und sich mit einer Sprengstoffweste selbst das Leben nahm, den Islamischen Staat im Irak und Syrien (ISIS) aus. In den Folgejahren, erklärt der Politologe, schlossen sich Teile der sogenannten Nusra-Front und kleinere dschihadistische Gruppen dem IS an, es folgten Tausende weitere Syrer. Auch deshalb geht Steinberg davon aus, dass der IS im Untergrund „weiter eine Rolle spielen“ wird.

Neue Welle

Der Terrorexperte Peter Neumann, der am Londoner King’s College das Internationale Zentrum für die Studie von Radikalisierung leitet, schließt inzwischen nicht mehr aus, dass der IS nach der türkischen Militäraktion und der Schwächung der kurdischen Streitkräfte erneut erstarkt. „Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, ob der IS zurückkehrt, hätte ich das klar verneint“, sagt er in einem Interview: „Heute bin ich mir da nicht mehr sicher.“ Wenn es der Terrororganisation in Syrien gelinge, militärisch erneut an Kraft zu gewinnen, könne das auch eine Sogwirkung bis nach Europa und Deutschland entfalten.

Ideologie

Steinberg sieht in der IS-Ideologie einen wichtigen Grund für das Erstarken der Terrororganisation. Diese sei für viele Muslime attraktiv gewesen, weshalb sich jene, die zunächst zur Nusra-Front, den Aharar ash-Sham und anderen kleineren dschihadistischen Gruppen anschlossen, zunehmend zum IS überliefen. Im Kern geht es um die starke salafistische Prägung des IS, einen Staat auf Grundlage des islamischen Rechts, der Scharia, errichten zu wollen. Für viele junge Muslime sei der Salafismus eine „zeitgemäßere Interpretation des Islam“. Während Terrororganisationen wie al-Qaida den Gewinn politischer Macht an oberste Stelle setzen, wurde der „islamische Staat“ zum Kernelement der IS-Propaganda, erklärt Steinberg weiter: „Die Aussicht, Teil des ‚Staats‘ zu sein“, sei für sie das „ausschlaggebende Motiv“ gewesen.

Hochzeit vorbei

Den Zenit überschritten hat der IS, zumindest, was seine Sogwirkung auf junge Menschen in Europa betrifft – davon geht man beim Landesverfassungsschutz aus. Mit den Luftangriffen ab 2015 und mit der offiziellen Niederlage des IS Ende 2017 wurde das Leben in Syrien gefährlicher. Die Türkei kontrolliert schärfer ihr Territorium als Durchreiseland. Herkunftsländern gelingt es, Ausreiseversuche zu verhindern.