Herr Neuschwander, bisher haben mehr als 60 deutsche Hochschulen und Universitäten entschieden, ihre Konten auf Elon Musks Plattform X stillzulegen, weil dort Desinformation, Hass und Manipulation blühen. Ist dieser WissXit, wie die Aktion heißt, die passende Antwort auf den Umbau von X zu einem Propaganda-Netzwerk?

Diesen Ausstieg aus X halte ich für eine geeignete Maßnahme. Denn wir haben bisher kaum Möglichkeiten, auf Plattformen wie X Einfluss zu nehmen, weder gesetzlich noch regulierend. Das Einzige, was wir als Zivilgesellschaft tun können, ist der Boykott. Auch die Hochschule Konstanz ist bei X ausgestiegen, weil man Zeichen setzen muss.

Jürgen Neuschwander, 69, studierte Informatik in Kaiserslautern und promovierte 1987 in Karlsruhe. Er lehrt auch nach seinem Ruhestand ...
Jürgen Neuschwander, 69, studierte Informatik in Kaiserslautern und promovierte 1987 in Karlsruhe. Er lehrt auch nach seinem Ruhestand 2020 Informatik an der Hochschule HTWG Konstanz. | Bild: Volkshochschulverbund BW

Jetzt hat sich auch Mark Zuckerberg vom Prinzip der Faktenchecks auf der Plattform Facebook verabschiedet. Wäre hier auch ein Boykott angebracht?

Wenn es so kommt, wie Zuckerberg angekündigt hat, und Facebook und Instagram die Moderationsregeln drastisch herunterfahren, wird man sich eine Reaktion überlegen müssen. Wenn die Algorithmen so ausgelegt werden, dass Nutzer immer nur bestätigt finden, was sie ohnehin denken, und alternative Meinungen gar nicht zum Tragen kommen, dann läuft es in die falsche Richtung.

Der Facebook- und Meta Gründer Mark Zuckerberg hat angekündigt, Faktenchecks auf seinen Plattformen abschaffen zu wollen und sich damit ...
Der Facebook- und Meta Gründer Mark Zuckerberg hat angekündigt, Faktenchecks auf seinen Plattformen abschaffen zu wollen und sich damit der Trump-Regierung angedient. | Bild: AFP

Die Algorithmen zeigen sich immer mehr als Spiegelbild der Intentionen der Plattformbetreiber: Sie geben nur das wieder, für das sie trainiert werden und entscheiden auf der Grundlage der Inhalte, die sie zur Analyse und zum Weiterlernen zur Verfügung haben.

Das hört sich nicht gerade nach Transparenz an . . .

Davon kann keine Rede sein. Kaum einer weiß, welche Regeln die Plattformbetreiber, als private wirtschaftliche Unternehmen, implementieren und wie sich das auf die Algorithmen auswirkt, Inhalte zu unterdrücken oder weiterzuverbreiten. Von welchen anderen Ideen im Sinne einer neuen politischen Denkschule, einer neuen „Tech-Oligarchie“, die Milliardäre des Silicon Valley träumen, ist weitgehend intransparent.

Der Tech-Milliardär Elon Musk (links) kaufte den Nachrichtenkanal Twitter 2022 für den Preis von 44 Milliarden Dollar und baute ihn zu ...
Der Tech-Milliardär Elon Musk (links) kaufte den Nachrichtenkanal Twitter 2022 für den Preis von 44 Milliarden Dollar und baute ihn zu einem Propaganda-Instrument um. | Bild: imago

Social Media hat eine Fülle von neuen Kommunikationsformen und Möglichkeiten gebracht, damit sich Menschen vernetzen und austauschen können. Aber was ist daraus geworden?

Diese sogenannten sozialen Netze sind gar nicht mehr sozial, dem Wortsinn nach also gemeinnützig. Heutzutage sind sie voll von Desinformation, Hassrede, Propaganda und sexueller Belästigung – mit steigender Tendenz. Social Media in dieser Form stellt daher eine Gefahr für die freiheitliche Demokratie dar, da sie immer öfter demokratische Prinzipien wie Respekt vor Mitmenschen, die Würde des Menschen oder die Meinungsfreiheit untergraben.

Die Anonymität der Nutzer senkt die Hemmschwelle, um extremistische Meinungen zu äußern, andere zu diffamieren und zu provozieren. Somit tragen diese Plattformen zur Spaltung und Radikalisierung unserer Gesellschaft bei.

In den USA wird unter dem Deckmantel, dass man keine Zensur möchte, das Löschen menschenverachtender Inhalte quasi ausgesetzt. Die Nutzer sollen durch Community Notes selbst entscheiden, was ihnen zugemutet werden kann. Hat das eine Chance in der EU?

Nein. In der EU wird dieses Vorgehen – zumindest zurzeit – nicht toleriert. Mit dem Digital Service Act (DSA) wurde ein Gesetz geschaffen, das die Tech-Firmen dazu zwingt, gewisse Regeln einzuhalten. Moderation und Filterung von Hassrede, Gewalt, Propaganda und sexuell Anstößigem sind vorgeschrieben. Wie die Algorithmen eingesetzt werden, ist nach dem DSA offenzulegen und auch uns Forschern zugänglich zu machen. Die Mitgliedsstaaten – das heißt, auch Deutschland – müssen dies aber konsequent fordern, entgegen den Drohungen der Silicon Valley-Oligarchen, die Plattformen abzuschalten.

Dabei wäre Künstliche Intelligenz (KI) doch eine große Hilfe, um geistigen Müll aus den Plattformen herauszufiltern . . .

Ja, das ist bereits so. In den letzten Jahren haben die Plattformbetreiber meist eine Kombination aus Technologien und menschlicher Moderation eingesetzt, um Inhalte zu überwachen. Algorithmen, auch basierend auf KI, scannen Texte, Bilder, Videos und Audiodateien auf potenziell problematische Inhalte. Regelverstöße lösen eine Prüfung aus, die diese Inhalte entweder löscht oder an Moderatoren weiterleitet. Einige Plattformbetreiber lagern auch Moderationsaufgaben an Drittanbieter aus. So wurden schon Millionen von Beiträgen in den Netzen gelöscht.

Ist das Zensur oder eine Notwendigkeit zur Verhinderung einer Radikalisierung, die von digital formuliertem Hass in physische Gewalt umschlägt?

In Deutschland garantiert Artikel 5 des Grundgesetzes die Meinungsfreiheit und natürlich ist es stets eine Gratwanderung, wo freie Meinungsäußerung endet oder die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines anderen Menschen verletzt wird. Und sicher bieten die Online-Plattformen eine wesentliche Infrastruktur zur Meinungsäußerung.

Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, sprach kürzlich per TV-Liveschalte mit Tech-Milliardär Elon Musk.
Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende, sprach kürzlich per TV-Liveschalte mit Tech-Milliardär Elon Musk. | Bild: IMAGO/Andreas Haas

Aber der Schutz der Demokratie rechtfertigt Eingriffe in die Meinungsfreiheit, wenn diese nur genutzt wird, um demokratische Werte zu untergraben oder Hass und Gewalt zu fördern. Hier darf man nicht von Zensur sprechen. Die sozialen Netzwerke haben in den letzten Jahren auch einen erheblichen Einfluss auf die Radikalisierung von Menschen ausgeübt. Insofern ist es eine Notwendigkeit, korrektiv einzugreifen.

Sollte Plattformen, die Kontrolle unterlaufen, mit Abschaltung gedroht werden?

Was die gesamten sozialen Netzwerke betrifft, ist dies ein zweischneidiges Schwert, da viele Nutzer sich eine Medienlandschaft ohne die Plattformen nicht mehr vorstellen können und auch nicht wünschen. 2019 sperrte Sri Lanka nach mehreren zeitgleichen Selbstmord-Terroranschlägen Facebook, Whatsapp, Youtube, Instagram, Snapchat und Twitter aus Angst vor Eskalation von Gewalt.

Die Blockierung führte aber zu erschwerter Kommunikation zwischen Familien und Hilfsorganisationen. Die UN verurteilte diese Maßnahme, die Online-Information zu unterbrechen als Verletzung der internationalen Menschenrechte.

Ist das Fach Medienkunde in den Schulen ein Muss?

In den Medien, in denen Informationen im Überfluss zugänglich sind, ist die Fähigkeit der kritischen Urteilskraft enorm wichtig. Das impliziert aber nicht nur die Kompetenz, seriöse Informationen von Fake News und manipulativen Inhalten unterscheiden zu können, Fakten recherchieren zu können, sondern auch die Initiative zur Gegenrede zu ergreifen, wenn man auf Inhalte stößt, die gegen die ethischen Grundüberzeugungen verstoßen. Ein lobenswerter Ansatz ist hierbei das Medienprojekt „Klasse!“ des SÜDKURIER, das Schüler zu diesem Thema sensibilisiert.

Richtet Social Media am Ende nicht mehr Schaden an als es einen positiven Beitrag zur Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens leistet?

Das ist schwer zu beantworten. Man darf ja nicht dem Eindruck erliegen, um Netz gebe es nur Propaganda und Hass. Social Media hat sich zu einem Kommunikationsmedium entwickelt, das von vielen Menschen nutzbringend eingesetzt wird. Für alle, die in der jetzigen Welt aufgewachsen sind, ist ein Verzicht schwer vorstellbar. Aber Studien deuten auf einen Zusammenhang von Social Media mit Ängsten, Depressivität, Essstörungen und Stress hin.

Zusätzlich stehen Plattformen in Verdacht, süchtig zu machen und das Sozialverhalten zu beeinflussen. Mehrere Länder haben ein Verbot für Social Media für Jugendliche unter 14 Jahren ausgesprochen. Die möglichen Nachteile liegen also auf der Hand: Soziale Medien schaffen Echokammern, erleichtern die Verbreitung extremistischer Ideen und Hassrede und propagieren Unwahrheiten. Auch Populisten und Demagogen haben durch die sozialen Netzwerke eine enorm verstärkte Stimme bekommen.

Was ist die politische und gesellschaftliche Konsequenz?

Die deutsch-amerikanische Publizistin Hannah Arendt sagte: „Wenn man ständig von allen angelogen wird, ist die Konsequenz nicht, dass man die Lügen glaubt, sondern dass niemand überhaupt noch irgendetwas glaubt“. Wenn das der Fall wäre, erschüttern soziale Netzwerke möglicherweise auch die Grundlagen menschlicher Kommunikation, des sozialen Zusammenhalts und der freiheitlichen Demokratie.