Herr Linnemann, mit welchen guten Vorsätzen sind Sie ins neue Jahr gestartet?
Dass ich mir jeden Tag zwei Stunden im Kalender blocke, um mal über den Tellerrand zu schauen, um mir Gedanken zu machen, wie man eigentlich Deutschlands Zukunft gewinnt. Bislang klappt es.
Und politisch? Welche Fehler wollen Sie künftig bleiben lassen?
Ich möchte, dass wir aufhören, über Nebensächlichkeiten zu reden und uns auf die wirklich wichtigen Themen konzentrieren. Ein Beispiel: Das Institut für Demoskopie in Allensbach hat herausgefunden, dass mehr als Hälfte der Menschen davon ausgeht, dass wir in zehn Jahren weniger Wohlstand haben als heute. Das hat es noch nie gegeben.
Das können wir als Volkspartei nur auffangen, wenn wir uns um die Kernthemen der Menschen kümmern. Und die sind: Ist mein Geld sicher? Ist mein Job sicher? Lebe ich sicher? Ist die Zukunft unserer Kinder sicher? Letzteres betrifft auch die Megathemen Klima und Verschuldung. Die Genderdebatte oder das Quotenthema hingegen – damit sollten wir uns nicht zu sehr abgeben, das ist nicht die Lebensrealität der Menschen.
Was wird die größte Herausforderung für Ihre Partei 2024?
Dass wir das Vertrauen der Wähler wieder zurückgewinnen. Wir haben 2021 viel Vertrauen verloren. Das wieder aufzubauen, ist ein harter Weg. Ich möchte, dass wir CDU pur machen und dass wir noch stärker werden als wir jetzt in den Umfragen schon sind.
Das hört sich hart an, aber ich habe das Gefühl: Viele Schüsse sind nicht mehr frei! Wenn wir wieder in die Regierung kommen, wird das vermutlich der schwerste Rucksack an Verantwortung sein, den eine Partei seit Langem zu tragen hatte. Wir erleben ein hohes Maß an Politikverdrossenheit und einen massiven Vertrauensverlust in die Lösungskompetenz. Wir müssen beweisen, dass wir es besser können.
Und dazu ist eine Abkehr von der Merkel-Politik nötig?
In einigen Punkten wie in der Migrations- und der Energiepolitik ist zumindest eine Kurskorrektur dringend erforderlich. Da sind ganz klar Fehler gemacht worden. Mich ärgert aber, dass die gesamte Regierungszeit von Angela Merkel nur schwarz oder nur weiß gesehen wird. Da wird überhaupt nicht differenziert.
Dabei wurden auch viele gute Dinge gemacht. Ich denke da insbesondere an die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Und damals gab es wenigstens so etwas wie Planungssicherheit – anders als jetzt mit der Ampel-Regierung. Man denke an KfW-Kredite oder an E-Auto-Förderung, die von einem Tag auf den anderen gekappt wurde. Eigentlich unfassbar, was sich die Ampel da herausnimmt.

Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden. Diese Forderung stellen Sie im neuen Grundsatzprogramm auf. Das ist ein ziemlich harter Schwenk. Ist das noch christliche Politik?
Ja, weil wir unserer humanitären Verantwortung gerecht werden wollen, ohne gleichzeitig unsere Kommunen, unsere Infrastruktur und unsere Gesellschaft zu überfordern. Konkret soll die Hilfe über die Vereinbarung von Kontingenten erfolgen, und zwar in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk. Dann kämen nur noch Asylsuchende zu uns, die wirklich schutzbedürftig sind und Hilfe benötigen, und nicht die, die stark genug sind, um sich bis zu uns durchzukämpfen.
Die Idee, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern, wird nicht ohne Grund von vielen Migrationsforschern befürwortet: Es ist ein System, das vor Ort hilft und bei dem sich nur noch Menschen auf den Weg machen, die wirklich verfolgt und bedroht sind.
Das praktisch umzusetzen, wird aber nicht einfach. In England haben Gerichte den Ruanda-Plan der Regierung erst mal verhindert.
Das ist so nicht ganz richtig. Da wurde nur gesagt, dass Ruanda nicht in der Lage ist, solche Verfahren durchzuführen. Das Prinzip der Drittstaaten wurde nicht moniert. Aber die jetzige Bundesregierung will an das Thema gar nicht ran.
Steckt hinter dem Asyl-Schwenk der CDU der Gedanke, der AfD Wähler abspenstig zu machen?
Uns geht es darum, ein Problem zu lösen, das vielen Menschen unter den Nägeln brennt. Und das auch mit Recht, wenn man sieht, wie groß die Integrationsprobleme geworden sind. Das fängt an mit den Schulen, die inzwischen von der zunehmenden Heterogenität der Klassen überfordert sind, und reicht bis zum Wohnungsmarkt, der immer enger wird. Da muss dringend die Reißleine gezogen werden.
Es ist doch so: Wenn die Politik nur über diese Themen redet, aber keine Problemlösungskompetenz zeigt, ist das Wasser auf die Mühlen der Protestparteien. Wenn man aber reagiert auf Probleme, wird das honoriert. Das sieht man zum Beispiel in Dänemark, wo die Sozialdemokraten eine restriktive Einwanderungspolitik betreiben, da sind die Rechtsradikalen bei weniger als drei Prozent. Ich glaube, das Kernproblem ist: Die Leute haben das Gefühl, dass Politiker nur noch quasseln, nicht handeln.
Im Herbst stehen in drei Bundesländern Landtagswahlen an, die AfD liegt in Umfragen bei 30 Prozent. Ex-Verfassungsrichter Voßkuhle sieht die Demokratie in Gefahr. Teilen Sie seine Sorge?
Ich kann seine Sorge verstehen, aber ich glaube auch, dass unsere demokratischen Strukturen sehr stark sind. Mehr Sorge bereitet mir die Bundesregierung, die unentwegt an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger vorbei handelt und dadurch Verunsicherung und Wut auf „die da oben“ schafft. Dadurch wird der Abstand zwischen den Regierenden und den Wählern immer größer. 58 Prozent der Menschen in Deutschland trauen der Politik nicht mehr zu, Probleme zu lösen.
Auch wir als Union kommen da leider nicht besonders gut weg. Deswegen ist es für uns so wichtig, unsere Positionen klar zu formulieren und aufzuzeigen, wie wir die Probleme lösen wollen. Mit unserem neuen Grundsatzprogramm sehe ich uns auf einem guten Weg.
Gerade wird wieder ein AfD-Verbotsverfahren diskutiert, von dem Sie aber wenig halten. Warum?
Allein die Debatte schadet schon, denn sie hilft der AfD, sich als Opfer zu stilisieren. Zudem dauern Verbotsverfahren lang und sie sind schwierig. Wir haben das zu Beginn der Nullerjahre beim gescheiterten Versuch gesehen, die NPD zu verbieten. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn ein solches Verfahren erneut scheitern würde.
Daher sehe ich derzeit nur einen Weg: Wir müssen die AfD inhaltlich stellen. Wir müssen deutlich machen, warum diese Partei eine Gefahr für unser Land, unseren Wohlstand, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und unsere Art zu leben ist. Im Übrigen bin ich auch kein Freund davon, nur mit Brandmauern zu argumentieren, ich bin für die Auseinandersetzung in der Sache.
Apropos Brandmauer. Sie sagen: Keine Koalition, keine Zusammenarbeit. Aber tatsächlich gibt es die doch schon auf kommunaler Ebene.
Wenn ein AfD-Politiker zum Bürgermeister oder Landrat gewählt wird, dann kann sich die CDU – wie alle anderen Parteien auch – dem Dialog nicht verweigern. Und trotzdem und gerade auch da gilt: Wir werden mit denen nicht koalieren. Wenn das so sein sollte im Bund, bin ich raus. Keine Zusammenarbeit, keine Absprachen. Aber noch mal, diese Debatte bringt uns nicht weiter, sie stärkt nur die AfD.

Vor 20 Jahren hat die CDU das Thema Leitkultur schon einmal diskutiert und dann verworfen. Warum hat es der Begriff in den Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der CDU geschafft?
Es geht darum, dass wir einfach mal aufschreiben wollten: Was heißt es denn, in Deutschland zu leben?
Das steht doch schon im Grundgesetz.
Das, was uns zusammenhält, geht über das Grundgesetz hinaus. Uns leitet die Frage: Wie halten wir eine pluralistische und auseinanderdriftende Gesellschaft zusammen? Eine Leitkultur drückt sich darin aus, dass wir als Gesellschaft Werte definieren, zu denen jeder Einzelne steht. Die kann man nicht vorschreiben, die muss man leben – und das geht nur, wenn man diese Debatten führt. Deshalb steht das im Grundsatzprogramm.
Nach dem 7. Oktober haben wir auch gesehen, wie berechtigt eine solche Debatte ist. Weil es nicht sein kann, dass Leute, die nach dem Hamas-Angriff auf Israel Partys feiern und am Ende noch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Ich finde sehr wohl, dass da etwas nicht stimmt in Deutschland. Deswegen müssen wir sagen, dass es Spielregeln gibt, dass wir erwarten, dass unsere Werte respektiert werden. Wenn wir das nicht machen, brauchen wir uns überhaupt nicht wundern, dass diejenigen, die zu uns kommen, uns nicht ernst nehmen.
Welche Werte konnte der verstorbene Wolfgang Schäuble vermitteln?
Vor allem Haltung, Pflichtbewusstsein und Diskursstärke. Ich habe mich seit ein paar Jahren zweimal im Jahr mit ihm getroffen. Das waren für mich ganz große Termine. Für mich war er ein ganz großes Vorbild. Er hat mir jedes Mal gesagt: Linnemann, Sie müssen Ihren Überzeugungen folgen, nicht den Mehrheiten. Sie müssen für Ihre Überzeugungen Mehrheiten beschaffen. Das nehme ich an, seit ich ihn kennengelernt habe.
Ein Treffen war ein Privileg.
Ja, ich war jedes Mal überpünktlich. Ich hatte Höllenrespekt vor ihm. Diese Persönlichkeiten sind in der Politik rar gesät. Heute machen sich Politiker Gedanken darüber, welches Haustier sie am Abend auf Instagram posten. Wolfgang Schäuble hat sich Gedanken gemacht, wie Deutschland und Europa die Zukunft gewinnen. Das gibt es nicht mehr so oft.
Wie gut vorbereitet waren Sie vor diesen Terminen?
Ich hatte nicht so den engen Draht wie Andreas Jung, der als CDU-Landesgruppenchef ganz nah dran war. Aber klar: Ich hatte immer meine vier, fünf Themen vorbereitet.
Sie haben sich bereits klar für Friedrich Merz als Kanzlerkandidaten der Union ausgesprochen: Was kann Merz, was Hendrik Wüst nicht kann?
Das ist so eine typische Journalistenfrage. Es ist doch klar, dass der Partei- und Fraktionsvorsitzende das erste Zugriffsrecht hat. Und er hat meines Erachtens die klare Mehrheit hinter sich. Wenn er im Deutschen Bundestag redet, freue ich mich. Das sind richtig starke Reden, inhaltlich wie auch rhetorisch. Ansonsten haben wir ein Verfahren abgemacht, wie wir die Entscheidung im Spätsommer oder Frühherbst treffen. Wichtig ist, dass wir das in einer Geschlossenheit machen und dass so etwas wie vor zwei Jahren nicht noch einmal passiert.
Wie ist Friedrich Merz als Chef?
Super! Es ist toll, für und mit jemandem zu arbeiten, der so inhaltgetrieben ist wie er. Friedrich Merz hat einen Plan – für unser Land und unsere Partei. Dabei bleibt er neugierig und fordert Widerspruch ein. Er will nicht, dass man ihm nach dem Mund redet, sondern möchte, dass man seinen eigenen Kopf hat. Zudem vertraut er mir und seinem Team in der CDU-Zentrale und in der Fraktion. Es macht richtig Spaß!